Die Ermittlung (Eintritt frei, Dauer 3 Stunden)

  Sonntag, 26. Januar 2025 - 16:30 bis - 19:30

 

In Kooperation mit der
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten / Gedenkstätte Bergen Belsen 


Eintri
tt: frei

Deutschland 2023/24
Kinostart: 25. Juli 2024
181 Minuten (3 Stunden)
FSK: ab 12; f

Regie/Drehbuch: RP Kahl
Vorlage: Das Theaterstück "Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen"
von Peter Weiss aus dem Jahre 1965

Internationale Peter Weiss Gesellschaft

Darsteller: 
Rainer Bock (Richter) · Clemens Schick (Ankläger) · Bernhard Schütz (Verteidiger) · Christian Kaiser (Zeuge 1) · Dirk Ossig (Zeuge 2) · Arno Frisch (Zeuge 3) · Elisabeth Duda (Zeugin 4) · Nicolette Krebitz (Zeugin 5) · Attila Borlan (Zeuge 6) · Robert Mika (Zeuge 7) · Marcel Hensema (Zeuge 8) · Christiane Paul (Zeugin 9) · Barbara Philipp (Zeugin 10) · Klaudiusz Kaufmann (Zeuge 11) · Marc Fischer (Zeuge 12) · Andreas Anke (Zeuge 13) · Dorka Gryllus (Zeugin 14) · Marek Harloff (Zeuge 15) · André Szymanski (Zeuge 16) · Sabine Timoteo (Zeugin 17) · Eva Maria Jost (Zeugin 18) · Peter Lohmeyer (Zeuge 19) · Thomas Meinhardt (Zeuge 20) · Marco Hofschneider (Zeuge 21) · Matthias Zera (Zeuge 22) · Rony Herman (Zeuge 23) · Axel Moustache (Zeuge 24) · André Hennicke (Zeuge 25) · Karl Markovics (Zeuge 26) · Filipp Avdeev (Zeuge 27) · Mark Zak (Zeuge 28) · Ralph Schicha (Zeuge 29) · Andreas Schröders (Zeuge 30) · René Ifrah (Zeuge 31) · Axel Sichrovsky (Zeuge 32) · Peter Schneider (Zeuge 33) · Jirí Mádl (Zeuge 34) · Andreas Lechner (Zeuge 35) · Axel Pape (Zeuge 36) · Andreas Pietschmann (Zeuge 37) · Tom Wlaschiha (Zeuge 38) · Robert Hunger-Bühler (Zeuge 39) · Wilfried Hochholdinger (Angeklagter 1) · Thomas Dehler (Angeklagter 2) · Michael Rotschopf (Angeklagter 3) · Niels-Bruno Schmidt (Angeklagter 4) · Christian Hockenbrink (Angeklagter 5) · Christian Pfeil (Angeklagter 6) · Tristan Seith (Angeklagter 7) · Torsten Ranft (Angeklagter 8) · Ronald Kukulies (Angeklagter 9) · Michael Schenk (Angeklagter 10) · Frank Röth (Angeklagter 11) · Nico Ehrenteit (Angeklagter 12) · Adam Venhaus (Angeklagter 13) · Till Wonka (Angeklagter 14) · Arndt Schwering-Sohnrey (Angeklagter 15) · Timo Jacobs (Angeklagter 16) · Lasse Myhr (Angeklagter 17) · Maciej Salamon (Angeklagter 18)

FBW: Prädikat besonders wertvoll

Filmwebseite, Presseheft, Wikipedia
Filmseite der Peter Weiss Gesellschaft
alle Daten zum Film auf Filmportal.de

Kritiken: 
Kritik von Ulrich Kriest für den Filmdienst (5 von 5 Sternen)
Kritik von Ayala Goldmann für die Jüdische Allgemeine
Kritik von Sascha Westphal für EPD-Film (4 von 5 Sternen)
Kritik von Björn Schneider für Programmkino.de
Kritik von Walli Müller für NDR-Kultur
Kritik von Oliver Armknecht für Filmrezensionen.de (7 von 10 Sternen)
Kritik von Dunja Bialas für artechock film
Kritik von Rüdiger Suchsland für artechock film
Kritik von Rüdiger Suchsland für SWR Kultur (4 Minuten)
Kritik von Barbara Schweizerhof für die taz
Kritik von Joachim Kurz für Kino-Zeit.de (4,5 von 5 Sternen)
Kritik von Jochen Werner für Filmstarts.de (5 von 5 Sternen)
Kritik von Eric Mandel für Kunst und Film (5 von 6 Sternen)
Kritik von Falk Straub für Spielfilm.de (4 von 5 Sternen)
Kritik von Tilman Schumacher für den Perlentaucher
Kritik von Kai Köhler für die Junge Welt 
Kritik von Lars-Olav Beier für den Spiegel (Artikel als PDF)
Kritik von Jürgen Kaube für die FAZ (Artikel als PDF)
Kritik von Sofia Glasl für die Süddeutsche Zeitung (Artikel als PDF)
Kritik von Daniel Kothenschulte für die Frankfurter Rundschau
Kritik von Peter Neumann für die Zeit
Kritik von Tobi Müller für die Zeit (Artikel als PDF)
Kritik von Hans-Georg Rodek für die Welt
Kritik vom Tagesspiegel/dpa

FilmTipp Vision Kino: Schulpädagogisches Material
Jury der evangelischen Filmarbeit: Film des Monats Juli 2024

Wikipedia: Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 
Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses (1963–1965)
Fritz Bauer Institut
Gedenkstätte und Museum "Auschwitz-Birkenau"

Hans Georg Rodek in der Welt darüber, dass "Die Ermittlung" keine Einladung für die Berlinale erhielt. (Artikel als PDF)

Interview von Astrid Kistner mit Regisseur RP Kahl für den Merkur
Interview von Thomas Klein mit Regisseur RP Kahl für den Filmdienst
Interview mit Regisseur RP Kahl und Produzent Alexander van Dülmen in Weltexpresso
Interview von Stefan Schmitz mit Regisseur RP Kahl für den Stern

Friedrich-Ebert-Stiftung: Die Ermittlung von Peter Weiss: Requiem oder Lehrstück?
René Schlott in Zeitgeschichte online zum 50-jährigen Jubiläum der Uraufführung

ARD: SWR-Retro: Ausschnitte der Aufführung von Die Ermittlung, dem Auschwitz-Stück von Peter Weiss. Podiumsdiskussion mit namhaften Vertretern des deutschen Geistesleben und dem Autor.


Trailer (123 Sekunden): 

 

Filmverleih Leonine: Making of des Films "Die Ermittlung" (24 Minuten)
 

Riecks Filmkritiken: Interview mit Regisseur Rolf Peter Kahl (22 Minuten): 
 

Spätvorstellung: Interview mit Clemens Schick und Tom Wlaschiha (22 Minuten): 


Spätvorstellung: Interview mit Rainer Bock (11 Minuten): 


MovieStart: Interview mit Clemens Schick und Christiane Paul (12 Minuten): 


Peter Weiss im Gespräch mit Friedrich Luft (1964) (31 Minuten): 

Die Ermittlung: Oratorium in 11 Gesängen (Peter Weiss, 1966) (140 Minuten):
NDR 29. März 1966, Regie: Peter Schulze-Rohr 
mit Hellmut Lange, Siegfried Wischnewski, Pinkas Braun, Herbert Fleischmann und vielen anderen
Wikipedia-Artikel über diese Produktion



ausführliche Kritik von Ulrich Kriest für den Filmdienst:
Eine Verfilmung des Theaterstücks von Peter Weiss über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965, umgesetzt als reduzierte, hochintensive filmische Installation. 

Was auch immer RP Kahl dazu bewogen haben mag, den fast vergessenen, formal strengen Theater-Klassiker von Peter Weiss in der von ihm gewählten, dem Thema angemessenen Form gerade jetzt zu verfilmen – ihm ist damit jedenfalls der Film der Stunde gelungen. Ein Glücksfall, eine Intervention, der/die einerseits (ob gewollt oder nicht) die Täterperspektive von „The Zone of Interest“ ergänzt, dabei aber ganz auf die durch Sprache entstehenden Bilder im den Köpfen der zumeist wohl nachgeborenen Zuschauer:innen baut und vertraut. Und andererseits dank der gewählten theatralen Strenge auch die Untiefen des clever formulierten und wohl auch so gemeinten Geschwurbels von den ideologisch kontaminierten Bildern des NS-Regimes von „Führer und Verführer“ vermeidet.

„Die Ermittlung“ mit dem Untertitel „Oratorium in 11 Gesängen“, von Peter Weiss aus dem subjektiven Bedürfnis geschrieben, die Konzentrationslager und wie es dazu kommen konnte, zu verstehen, ist dabei zugleich auch ein fesselnder Sprung zurück an den Beginn der bundesdeutschen Erinnerungskultur zum Holocaust: dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, der von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt/Main stattfand.

Recherche vor dem Holocaust-Diskurs der 1960er-Jahre

Weiss hatte seine Arbeit noch vor der Urteilsverkündung im August 1965 abgeschlossen; die Uraufführung von „Die Ermittlung“ fand am 19. Oktober 1965 in 15 Theatern gleichzeitig statt. Wichtig war Peter Weiss die Perspektive seines Stücks, die durch den Titel charakterisiert ist: „Das Konzentrationslager selbst kommt in meinem Stück nicht vor; wir blicken darauf zurück wie diejenigen, die an den tatsächlichen Verhandlungen teilnahmen, aus der Perspektive der Gegenwart.“ Es geht also in der „Ermittlung“ um eine Recherche vor dem Hintergrund des damals, Mitte der 1960er-Jahre aktuellen Holocaust-Diskurses, weshalb das Schlusswort des Stücks auch nicht von der Justiz, sondern von einem reuelosen Angeklagten gesprochen wird: „Heute / Da unsere Nation sich wieder / Zu einer führenden Stellung / emporgearbeitet hat / Sollten wir uns mit anderen Dingen befassen / Als mit Vorwürfen / Die längst als verjährt / angesehen werden müssten.“

Das Material, dessen sich Weiss bei der „Ermittlung“ bediente, stammt zu großen Teilen aus der Prozess-Berichterstattung von Bernd Naumann in der „FAZ“, ergänzt um weitere Quellen und wissenschaftliche Literatur, allerdings sehr konzentriert, „nüchtern und ohne Sentimentalität“. Dieses Konzentrat der Aussagen der geladenen Zeugen vor Gericht überführt, wie Weiss anmerkt, persönliche Erlebnisse und Konfrontationen in die Anonymität. Die Zeugen im Stück werden zu Sprachrohren, die referieren, was Hunderte im Verfahren ausdrückten. Wichtig als Steilvorlage von Weiss für die Verfilmung von RP Kahl: „Die Verschiedenheiten in den Erfahrungen können höchstens angedeutet werden in einer Veränderung der Stimme und Haltung.“

Eine filmische Installation

RP Kahl hat das Theaterstück nicht als verfilmtes Theater oder als Adaption des Weiss-Textes, sondern als eine Art filmischer Installation umgesetzt. Gedreht wurde mit mehreren beweglichen Kameras in einem Studio, die Angeklagten sitzen auf einer Seite, die Zeugen treten vor ein Mikrofon und machen ihre Aussagen. Dazu noch der Richter (Rainer Bock), der Staatsanwalt (Clemens Schick) und der Verteidiger (Bernhard Schütz) – ein kompaktes Setting, das dennoch reichlich Raum für Beobachtungen eröffnet. Die Zahl der auftretenden Zeugen hat Kahl gegenüber der Vorlage von 9 auf 39 Darsteller erweitert und hochkarätig besetzt (unter anderem mit Nicolette Krebitz, Christiane Paul, Sabine Timoteo, Marek Harloff, André M. Hennicke, Karl Markovics, Tom Wlaschiha, Robert Hunger-Bühler. Gleiches gilt für die 18 Angeklagten mit unter anderem Wilfried Hochholdinger, Niels-Bruno Schmidt, Thomas Dehler, Timo Jacobs.

Die unterschiedlichen Darsteller:innen haben die Möglichkeit, sich ihren Texten unterschiedlich zu nähern. Die Auftritte changieren zwischen einem nüchternen Vortrag des Textes über eine körperliche Haltung, ein Spiel beim Vortrag des Textes bis hin zu einer Choreografie des Vortrags in der Manier von Huillet/Straub. Auch zeigt die Varianz dialektaler Färbungen die Varianz der Opfer.

Zudem sind Kameras und auch die Montage „neugierig“ und setzen ihrerseits Akzente und fixieren Haltungen. Dass es im Frankfurter Auschwitzprozess um den Nachweis konkreter Tatbeteiligungen geht, führt zu einer Spannung zwischen der kaum zu ertragenden Ungeheuerlichkeit der Zeugenaussagen und der Strategie der Angeklagten – längst wieder in der bürgerlichen Gesellschaft integriert und etabliert – nichts gewusst, nichts gesehen, nichts gehört zu haben, kurz: nicht beteiligt gewesen zu sein. Was gerne auch höhnisch vorgetragen wird. Früh wurde darauf hingewiesen, dass „Die Ermittlung“ mustergültig dokumentiert, dass der Prozessablauf in Frankfurt strukturell die Auschwitz-Konstellation der barbarischen Verhöhnung der Opfer wiederhole.

Von der Sklavenarbeit profitiert

Weil sich Kahl entschieden hat, Weiss’ Text unverändert zu übernehmen, schmuggelt er als Konterbande auch die Haltung des marxistischen Autors in den Film, der zufolge vom Faschismus nicht reden könne, wer vom Kapitalismus schweige. Eine Haltung, die im Diskurs von 1965 auf erhebliche Resonanz stößt, wenn die Namen bedeutender industrieller Komplexe fallen, die von der Sklavenarbeit in den Konzentrationslagern profitiert haben und sich nach 1945 rasch umbenannten, sodass aus der IG Farben die BASF, Hoechst und Bayer wurden. „Verteidiger: Wir protestieren gegen diese Frage / Die keinen anderen Zweck hat / Als das Vertrauen in unsere Industrie zu untergraben. (…) Ankläger: Lassen Sie es uns noch einmal bedenken / Dass die Nachfolger dieser Konzerne heute / Zu glanzvollen Abschlüssen kommen / Und dass sie sich wie es heißt / In einer neuen Expansionsphase befinden.“ Derlei „segensreiche Freundschaft zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie“ wird seitens der Verteidigung wiederholt als „Diffamierung“ zurückgewiesen.

Es bleibt dem Zeugen 3 überlassen, diesen empirischen Befund in eine Theorie zu überführen, die die Kontingenz des Geschehens mit der Systemlogik von Auschwitz in Zusammenhang bringt: „Viele von denen die dazu bestimmt wurden / Häftlinge darzustellen / Waren aufgewachsen unter denselben Begriffen / Wie diejenigen / Die in die Rolle der Bewacher gerieten (…) Wir müssen die erhabene Haltung fallen lassen / Dass uns diese Lagerwelt unverständlich ist / Wir kannten alle die Gesellschaft / Aus der das Regime hervorgegangen war / Das solche Lager erzeugen konnte / Die Ordnung die hier galt / War uns in ihrer Anlage vertraut / Deshalb konnten wir uns auch noch zurechtfinden / In ihrer letzten Konsequenz / In der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad / seine Herrschaft entwickeln durfte / Und der Ausgebeutete / Noch sein eigenes Knochenmehl / liefern musste.“

Das Ausagieren von Machtverhältnissen von oben nach unten

Weil es Peter Weiss aus seiner Perspektive auch um ein Machtgefüge geht, dass das Ausagieren von Machtverhältnissen von oben nach unten ermöglicht, also um ein zutiefst negatives und destruktives Menschenbild, fehlt in „Die Ermittlung“ – auch früh bemerkt – das Wort „Jude“, wiewohl es in den Prozess-Notizen Naumanns wiederholt vorkommt. Bei Weiss wird der Holocaust als Verbrechen gegen die Menschheit verhandelt, als ein System, dass prinzipiell überall etabliert werden kann, wo die strukturellen Bedingungen fortdauern.

Man kann hier an das Diktum Walter Benjamins denken, demzufolge der Ausnahmezustand die Regel sei, worauf die Vorstellung von Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu reagieren habe, um dem Staunen über die Möglichkeit des Faschismus etwas Produktives entgegensetzen zu können. Genau hierin liegt das Produktive des von Kahl im Rekurs auf Weiss unternommenen Tigersprungs aus der Geschichte zurück zu den Anfängen einer Erinnerungskultur, die sechzig Jahre später beim Diskursmoment „Täter, menschlich gesehen“ gelandet ist. Hier setzt die notwendige Korrektur der Wiedervorlage der „Ermittlung“ als ganz und gar umwerfendes „Rerun“ des Abgründigen, des Unaussprechlichen, des von rechten Geschichtsklitterern so unsäglich Kleingeredeten ein.