Der Hals der Giraffe
Originaltitel: Le cou de la girafe
Komödie Melodram Familiendrama Roadmovie
Frankreich/Belgien 2004
Kinostart: 17. August 2006
84 Minuten
FSK: ab 0; f
Regie/Drehbuch: Safy Nebbou
Darsteller:
Sandrine Bonnaire (Hélène), Claude Rich (Paul), Louisa Pili (Mathilde), Darry Cowl (Léo), Philippe Leroy-Beaulieu (Maxime), Maurice Chevit (Maurice), Monique Mélinand (Madeleine), Geneviève Rey-Penchenat (Marguerite)
WIKIPEDIA
Kritiken:
Kritik von Alexandra Wach für den Filmdienst
Kritik von Sonja M. Schultz für critic.de
Kritik von Franziska Heller für die Filmfachzeitschrift Schnitt (die ich abonniert hatte, bis sie leider insolvent ging)
Kritik von Gesine Grassel für Kino-Zeit.de
Kritik von Daniela Leistikow für filmstarts.de
Kritik von Holger Twele für Kinofenster.de (Schulpädagogisches Begleitmaterial)
Kritik auf Kino.de
Kritik von Dieter Wunderlich
französischer Trailer – der Film läuft bei uns natürlich auf deutsch.
ausführliche Kritik Filmdienst:
Die Enkelin will es wissen: Sie will alles wissen über die alten Geschichten. Die Kamera bleibt von der ersten Einstellung an auf ihrer Augenhöhe und fixiert sanft ihr ernstes und willensstarkes Kindergesicht. Schweigen und Verdrängen gibt es reichlich in ihrer Familie und dazu das Phantom der Großmutter, die von Biarritz aus drei Jahrzehnte lang mit unzähligen Briefen vergeblich den Kontakt mit Ehemann und Tochter zu halten versuchte. Beide haben mit der Großmutter abgeschlossen und sie für tot erklärt. Die neunjährige Mathilde, die mit ihrer Leseschwäche schwer zu kämpfen hat und sich in ihre eigene Welt zurückzieht, entdeckt die ungeöffnete Korrespondenz in ihrer Matratze, reißt in der Nacht aus und „entführt“ kurzerhand den Opa aus dem Pariser Altersheim, wo dieser nach einem Schlaganfall dahin vegetiert.
Erst jetzt erfährt sie, dass sich der Großvater für den Seitensprung seiner untreuen Frau rächte, indem er ihr die gemeinsame Tochter entzog. Nach dem erzwungenen Geständnis nutzt dieser sogleich die Gelegenheit, der Erstarrung seines Lebens zu entkommen. Während seine solidarischen Mitbewohner der Heimleitung eine Komödie vorspielen, reist er mit der Enkelin von Paris an die verregnete Atlantikküste, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, den alten Verletzungen und gekränkten Eitelkeiten entgegen – gefolgt von der gewohnt streng besorgten Sandrine Bonnaire als Mathildes von der Vergangenheit traumatisierte Mutter Hélène. Die Übersetzerin arbeitet in einem Verlag und kann nur schwer mit den Schulproblemen ihrer Tochter umgehen. Als sie die Wahrheit über ihre Herkunft als Halbwaise entdeckt, bricht das Lügengebäude, in dem sie aufgewachsen ist, schlagartig zusammen. Die Kette des Unglücks, die für die Fremdheit zwischen den Generationen verantwortlich war, erfährt ihre ersten Brüche.
Das Debüt von Safy Nebbou, der in Bayonne im Baskenland als Sohn einer deutschen Mutter und eines algerischen Berbers geboren wurde, ist ein dezentes, überaus präzises Road Movie, das subtil zwischen Komödie und Melodram wechselt und dabei Selbstfindung, den Mut zum Verzeihen und die entwaffnende Kraft kindlicher Wahrheitssuche feiert. Es ist eine stille Geschichte über familiäre Bindungen und was von ihnen bleibt, wenn Enttäuschung, Schuld und Schmerz zu viel Raum einnehmen. Bis zum Ende konsequent aus der Sicht des Mädchens erzählt, präsentiert der Film immer mehr Details aus dem verschütteten Gefühlsleben der Figuren, lässt Wunden aufbrechen und langsam wieder heilen. Nebbou erzählt von der Leichtigkeit des Seins, die es immer wieder neu zu erkämpfen gilt, und streift ganz nebenbei die Themen Alter und Tod, ohne das Wesentliche seiner minimalistischen Familiengeschichte aus den Augen zu verlieren. Realistisch und in ruhigen, unaufgeregten Bildern erzählt, zeugt die sanfte Auflösung der Gefühlswirren von einer großen Reife des jungen Regisseurs (von dem auch das Drehbuch stammt) und einer Menschlichkeit, die jeden falschen Ton scheut. Selten hat man eine Familie so ergreifend zusammenwachsen sehen. Im Verbund mit den majestätischen Panoramen der baskischen Landschaft besticht der Film durch die Zartheit, mit der er das Innere seiner traurigen Helden nach außen kehrt und ihnen dank der ihrer kindlichen Intuition vertrauenden Mathilde leichtfüßig einen Weg aus der Einsamkeit weist. Am Ende findet der Großvater sogar zu seinem alten Beruf des Buchhändlers zurück, was den Titel des Films erklärt, der sich auf eine Buchhandlung in Biarritz bezieht. Das alles ist nicht neu, aber stimmig inszeniert und durchgespielt. Ein kleiner, feiner französischer Film in der Tradition von Eric Rohmers lakonischen Alltagsmärchen.
von Alexandra Wach im FILMDIENST 2006/17