Yesterday – nach Sichtung storniert

  Sonntag, 24. Dezember 1899 - 20:30 bis - 22:20

Nach dem Lesen unzähliger überwiegend positiver Kritiken haben wir den Erfolgsfilm (300.000 Besucher in zwei Wochen im Hochsommer), entgegen unserer Gewohnheit, gesichtet. Es war niederschmetternder als erwartet.
Kurz gesagt: 
Was vorher jedem klar war: Der Film ist hemmungslos nach Erfolgsformel gestrickt: Erfolgreiche Musik plus Romanze und um sicher zu sein, dass auch eine Jugend, die mit den Beatles vielleicht nicht so viel anzufangen weiß, sich ins Kino verirrt: Ed Sheeran. Ansonsten ist "Yesterday" das, was man einen reinen Teenagerfilm nennt, deren Phantasien hier zu 100% bedient werden und vor Grenzwertigem, wie einer öffentlichen Liebeserklärung im ausverkauften Wembley-Stadion, nicht zurückschreckt und mit einer puritanischen Keuschheitsmoral à la "Twilight" aufwartet. Ellies Definition eines One-Night-Stands schießt dabei den Vogel ab.
Für uns völlig irritierend: Nicht eine Kritik thematisiert die keusche Sexualmoral, die dieser Film erfolgreich als "Romantik" zu transportieren versteht. Warum Ellie, die mehr oder weniger als Weggefährtin und Kumpeline 20 Jahre an der Seite von Jack steht, in all der Zeit nicht einmal die Kurve bekommen haben will, ihm ihre Liebe zu gestehen und dies erst tut, als er sich auf dem Weg zum Weltruhm befindet, kann man durchaus als Ausdruck eines antiquierten Rollenverständnisses begreifen, das aber anscheinend nach wie vor als so selbstverständlich rezipiert wird, dass es keinem Kritiker/Kritikerin thematisierenswert erscheint. Aber das wäre noch das Geringste. Als Ellie dem verdutzen Jack ihre jahrelange Liebe gesteht, landen sie in seinem Hotelzimmer (in dem, warum auch immer, ein überdimensionaler TV-Bildschirm unentwegt vor sich hin flimmert ...) und anstatt sich nun zu lieben, springt sie in letzter Sekunde von der Bettkante und erklärt, dass sie sich für einen One-Night-Stand zu schade sei! – sein Flug war für den nächsten Tag gebucht ...  Ferner: Völlig grenzwertig in der Tradition fragwürdiger Hollywood-Produktionen stehend, findet Jack es eine angemessene Idee, Ellie seine Liebe bar jeder Intimität auf der Bühne des ausverkauften Wembleystadion zu gestehen, während sie, ohne ihr Wissen, Backstage gefilmt wird und ihr Gesicht in Großaufnahme auf die Stadionmonitore projiziert wird und ihr ahnungsloses Gesicht so weltweit einem Millionenpublikum präsentiert wird. Ellies Reaktion darauf lautet: hätte ich das gewusst, hätte ich meine Haare vorher in Ordnung gebracht ...  Anschließend wird, wie es sich gehört, in Weiß geheiratet und zwei entzückenden Kindern das Leben geschenkt.

Nur mal so:  Vielleicht wäre Jack mit seinen eigenen Songs erfolgreicher gewesen, wenn er so weit gewesen wäre, sich in all den Jahren seine Gefühle zu Ellie einzugestehen – also seine eigenen Gefühle überhaupt mal wahrzunehmen – nicht davon zu reden, wie man so lebensunerfahren sein kann, die Gefühle des Gegenüber jahrelang zu ignorieren. Emotionale Kompetenz ist wohl eine nicht unwesentliche Eigenschaft eines Poeten wie auch die eines erfolgreichen, überzeugenden und einnehmenden Interpretens der Beatles-Songs. Auch einige andere Aspekte des Films gehen, unbemerkt von großen Teilen der Kritik und & Danny Boyle sowie dem Unwillen, etwas Gegebenem und kommerziell Erfolgreichem eigenständig seine eigene Lebenshaltung und Lebenserfahrung entgegenzusetzen, nicht auf.

Yesterday 1965

 

Eintritt: 5,00 €

Großbritannien 2019
Kinostart: 11. Juli 2019
117 Minuten
FSK: ab 0; f

Regie: Danny Boyle (Trainspotting, Slumdog Millionär, Steve Jobs, Kleine Morde unter Freunden, Lebe lieber ungewöhnlich)
Drehbuch: Richardt Curtis  (Notting Hill, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, Bridget Jones, Tatsächlich… Liebe)
Kamera: Christopher Ross
Musik: Daniel Pemberton
Schnitt: Jon Harris


FBW: Prädikat besonders wertvoll  

Darsteller: 
Himesh Patel (Jack Malik) · Lily James (Ellie) · Kate McKinnon (Debra) · Ed Sheeran (Ed Sheeran) · Ana de Armas (Roxanne) · Lamorne Morris (Stephen) · Sophia Di Martino (Carol) · Joel Fry (Rocky) · James Corden (James Corden)

FilmhomepageWIKIPEDIA   
Pressespiegel auf IMDB
Pressespiegel auf Filmstarts.de
Pressespiegel auf Wikipedia


Positive Kritiken oder indifferente, die in keiner Form auf den Punkt kommen, aber in einer Filmempfehlung münden
Kritik von Gaby Sikorski auf Programmkino.de
Kritik von Frank Schnelle im Filmmagazin EPD (4 von 5 Sternen)
Kritik von Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung
Kritik von Rabea Weihser in der Zeit
Kritik von Axel Timo Purr auf artechock film
Kritik von Jens Adrian auf Treffpunkt-Kritik
Kritik von Jenni Zylka im Tagesspiegel
Kritik von Oliver Armknecht auf Filmrezensionen.de (4 von 5 Sternen – warum 4 Sterne wird beim Lesen dieser Kritik nicht plausibel)
Kritik von Michael Pilz in der Welt
Kritik von Bert Rebhandl in der FAZ 
Kritik von Verena Schmöller auf Kino-Zeit.de 
Kritik von Christoph Hartung (6 von 8 Sternen – warum 6 Sterne wird beim Lesen dieser Kritik nicht plausibel)
Kritik von Oliver Kube auf Filmstarts.de (3,5 von 5 Sternen)
Kritik von Volker Schönenberger auf die Nacht der Lebenden Texte
Kritik von Hartwig Tegeler im Deutschlandfunk
Kritik auf Leinwandreporter (4 von 5 Sternen)
Kritik von Katja Nicodemus auf NDR Kultur

Negative Kritiken:
Kritik von Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau
Kritik von Antje Wessels
Kritik von Knut Elstermann auf mdr Kultur (Film der Woche)
Kritik von Kathrin Häger im Filmdienst (3 von 5 Sternen)
Kritik von Andreas Borcholte im Spiegel
Kritik von Matthias Hopf auf dasfilmfeuilleton.de
Kritik von Tjark Lorenzen auf netzwelt.de
Kritik von Patrick Wellinski auf Deutschlandfunkkultur

nicht einzuordnende "Kritik":
Kritik von Tim Caspar Boehme in der taz

Mediathek: ZDF-Aspekte (4 Minuten)
Mediathek: 3SAT-Kulturzeit   
Mediathek: mdr Kultur
Mediathek: BR KinoKino
Mediathek: SWR

Interview von Bettina Peulecke mit Danny Boyle auf NDR-Kultur

Schulmaterial:
Kinofenster.de

Trailer (169 Sekunden):



negative Filmkritik von Pfarrer Christian Engels, Leiter des Filmkulturellen Zentrums im Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik
(4 Minuten):

ausführliche Kritik Filmdienst
Song-lastiger Liebesfilm um einen Straßenmusiker, der nach einem globalen Stromausfall scheinbar der einzige ist, der sich an die Hits der Beatles erinnert – und dies nutzt, um selbst Weltruhm zu erlangen.

„Yesterday, all my troubles seemed so far away. Now it looks as though they're here to stay...“ Melancholisch klimpert Jack Malik auf der neuen Gitarre, die ihm seine erstaunt lauschenden Freunde gerade geschenkt haben. Zum Trost, denn der erfolglose Straßenmusiker hatte einen schweren Zusammenstoß mit einem Linienbus erlitten. Ausgerechnet während eines globalen Stromausfalls, der Jack zum Glück nur die Vorderzähne kostete. Den anderen Erdenbürgern scheint der Blackout dagegen kräftig im kollektiven Gedächtnis rumradiert zu haben. Denn die Freunde sind von dem vermeintlich selbst komponierten Song total begeistert. „Das ist Yesterday von den Beatles... einer der größten Songs aller Zeiten!“, entgegnet ihnen Jack. Doch: „Wer sind eigentlich die Beatles?“


Entsetzt fängt Jack zu googeln ab: Die Suche nach „Beatles“ ergibt den Käfer Beetle. Die Recherche nach den Bandmitglieder führt zum Wikipedia-Eintrag von Papst John (Johannes) Paul II. Ohne die Pilzköpfe als Werbeträger gab es weder Coca Cola noch die Britpop-Band Oasis, was in „Yesterday“ einer von vielen gewitzten Seitenhiebe auf eine Pop- und Kulturgeschichte ist, die sich in der Zitatenhölle immer wieder aus sich selbst heraus gebiert.

Mit Ed Sheeran auf der Bühne

Mit dieser Frage nach den „Beatles“ sieht sich Jack nun selbst konfrontiert: Soll er die Songs der augenscheinlich in Vergessenheit geratenen Bands klauen und als Genie die Welt erobern? Oder lieber ehrlich in der Versenkung des musikalischen Niemandslandes verharren? Mit gelegentlichen Highlights, wenn ihm seine Managerin Ellie einen Festivalauftritt besorgt hat – zur Mittagszeit auf einer Nebenbühne, vor einer Gruppe spielender Kinder.


Der Song vom sorgenfreien „Gestern“ könnte also unzutreffender nicht sein, schließlich sind Jacks Probleme eigentlich von vorgestern. Doch jetzt scheint der Musiker aus Leidenschaft ausgesorgt zu haben, wenngleich er sich mit fremden Federn schmückt. Ein junger Studiobesitzer wird auf „seine“ Songs aufmerksam, das Lokalfernsehen klopft an. Plötzlich steht sogar der Popstar Ed Sheeran in der Küche, um den Geheimtipp als Vorband für ein Konzert in Moskau zu engagieren. Im Nu ist Jack der hochgelobte neue Stern am Pop-Himmel, der umso tiefer zu fallen droht, als ihm das Schicksal erneut einen Strich durch die Rechnung zu machen scheint.

„Hey, June“ vs „Hey, Dude“

Regisseur Danny Boyle erzählt in dem Hit-lastigen Liebesfilm ein sehr ähnliches Underdog-Märchen wie in Slumdog Millionär". Hier ist es Jack, der ein Glückslos zieht, das Ruhm und Reichtum verspricht, ehe er erkennt, dass allein die Liebe zum wahren Glück führt. Dass die erzählerische Prämisse einer (Musik-)Welt ohne die Band, die diese so eindringlich geprägt hat, zunächst unglaublich unterhaltsam ist, verdankt „Yesterday“ auch den für mehrere Millionen Pfund eingekauften Musiklizenzen. Herrlich hemdsärmelig jubelt Jack die größten Welthits seiner unwissentlich ignoranten Zuhörerschaft unter. Durch den Einfluss geldgieriger Produzenten droht dann aus „Hey, Jude“ schon mal ein „Hey, Dude“ werden. Doch Jack ist peinlich genau darauf bedacht, in seinem Gedächtnis und an den verschiedenen Lebensstationen der Beatles dem exakten Textlaut nachzuspüren.


„Yesterday“ wartet mit viel nostalgischem Wiedererkennungsmomenten und einem bissigen Kommentar auf die digitalisierte Vermarktungsmaschinerie des Musikgeschäfts auf. Beides kann aber nicht verhehlen, dass der Film einen recht konventionellen Weg einschlägt. So wird die Annäherung von Jack und Ellie, die schon lange und recht offensichtlich Gefühle für den Musiker hegt, ständig durch beliebige Störfaktoren unterbrochen – hereinplatzende Eltern, Handys oder Manager.

Eingängig und sympathisch

Die Cameo-Auftritte von Ed Sheeran mögen für prächtige Stadien-Aufnahmen und ein größeres Zielpublikum sorgen. Dessen monoton massenkompatible Songs unterstreichen aber vor allem im Vergleich mit den Beatles-Hits, wie schlecht es um die Pop-Industrie bestellt ist. Ob das beabsichtigt war, sei dahingestellt. Zumal neben dem Wohlfühlanspruch dem Ausnahmephänomen der Beatles-Songs kaum nachgespürt wird. Auch bleiben die Figuren recht eindimensional, was primär wohl dem Drehbuch von Richard Curtis anzulasten ist. Und so gleicht der so aufregend beginnende Film zunehmend selbst einem Ed Sheeran-Song: eingängig, sympathisch, aber letztlich ziemlich stromlinienförmig.


Eine Kritik von Kathrin Häger