Eintritt: 5,00 €
Komödie Deutschland 2017
Kinostart: 2.November 2017
94 Minuten
FSK: ab 0; f
Regie: Nicolas Wackerbarth
Buch: Nicolas Wackerbarth, Hannes Held
Kamera: Jürgen Carle
Schnitt: Saskia Metten
Darsteller:
Andreas Lust (Gerwin), Judith Engel (Vera), Ursina Lardi (Almut Dehlen), Corinna Kirchhoff (Luise Maderer), Andrea Sawatzki (Annika Strassmann), Milena Dreißig (Ruth), Nicole Marischka (Hanne), Stephan Grossmann (Manfred), Marie-Lou Sellem (Mila Ury-Tesche), Victoria Trauttmansdorff (Tamara Lentzke), Tim Kalkhof (Kostja Stahnke)
Filmhomepage, EPD-Film, Programmkino.de, Ray-Filmmagazin, alle Daten zum Film auf Filmportal.de
Kritik von Bert Rebhandl in der FAZ: Ein großartiger Film
Kritik von Matthias Heine in der Welt
Kritik von Peter Kümmel in der Zeit
Kritik von Barbara Schweizerhof in der taz
Kritik von Christina Tilmann in der Neuen Züricher Zeitung: ein überragender Film zu Machtkämpfen im Film
Der Tagesspiegel: Ein Treffen mit dem Team von Casting
SWR2: Drehen ohne Drehbuch
Deutschlandfunkkultur: Casting im Faktencheck
NDR: Das große, fiese Casting-Spiel des Lebens
Interview mit Nicolas Wackerbarth im Spiegel
Interview mit Andreas Lust im Wiener Standard
Interview mit Andreas Lust im Kurier
Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film" ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.
Kurzkritik Filmdienst
Kurz vor Drehbeginn einer Neuverfilmung von Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ fürs Fernsehen sucht die Regisseurin noch nach der idealen Besetzung. Während sich beim Team langsam Nervosität ausbreitet und die sich vorstellenden Schauspielerinnen mit ihren Versagensängsten und Eitelkeiten kämpfen, findet der Anspielpartner im Casting immer mehr Gefallen an seiner Aufgabe. Improvisationskomödie, die durch Spielfreude und ein virtuoses Schauspielerinnen-Ensemble begeistert. Mittels der Fassbinder-Vorlage macht sie die Abhängigkeiten und Macht-Asymmetrien in der Fernsehwelt deutlich, wobei sie geschickt den Unschärfebereich zwischen Fiktion und Leben, Person und Rolle nutzt.
Sehenswert ab 16.
Esther Buss, FILMDIENST 2017/22
3Sat-Kulturzeit (64 Sekunden):
MDR - Royal (4,5 Minuten):
ARD-Brisant (156 Sekunden):
rbb - Stilbruch (4,5 Minuten):
Trailer (130 Sekunden):
ausführliche Kritik Filmdienst
Die Schauspielerin ist geladen. Sie spricht jetzt schon zum vierten Mal vor. Die Maskenbildnerin kommt ihr mit einer schwarzen Kurzhaarperücke, außerdem will sie eben noch mal über ihr Gesicht „drübergehen“, wie sie es nennt. Und zu guter Letzt setzt man ihr auch noch die „Anspielwurst“ Gerwin vor. Der Film von Nicolas Wackerbarth hält sich erst gar nicht mit Warmspielen auf, er ist sofort auf Hundert. Anerkennungssucht, Versagensangst, gekränkte Eitelkeit und die Panik des Älterwerdens verdichten sich schon in den ersten Szenen zu einem explosiven Gemisch. „Ich bin nicht hysterisch!“: Dieser gefährlich nah an der Schwelle zur Hysterie stehende Satz aus Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ für dessen Fernseh-Remake die Regisseurin Vera noch kurz vor Drehbeginn verschiedene Schauspielerinnen castet, steht als Drohung stets im Raum.
Im Spiegelsystem „Film im Film“ ist das Casting in den letzten Jahren vermehrt als Subgenre in Erscheinung getreten. Dafür gibt es gute Gründe. Nicht zuletzt werden beim Casting die Mechanismen neoliberaler Arbeit in Zeiten steigenden Wettbewerbs deutlich ausformuliert. Mit anderen Worten: Es geht um die Ökonomisierung des Ichs und das auf sehr direkte, sehr schonungslose Weise. Dabei steht das Casting immer auf der Kippe zwischen Fiktion beziehungsweise Illusion und der Realität der Arbeitswelt. So spielt Gerwin seine vermeintliche Unabhängigkeit gegenüber den bedürftigen Bewerberinnen auch gerne mit dem Satz, „Ich mach’ das ja nur zum Spaß. Mir geht es nicht um mein Leben“, aus. Für die Schauspieler steht hier allerdings weit mehr auf dem Spiel als nur eine Absage. Da sie sich selbst als Produkt anbieten, kann jede Kritik gar nicht anders als persönlich gemeint sein. Und da die Schauspielerinnen in „Casting“ allesamt nicht mehr jung sind, spielt auch das Verhältnis von Marktwert und Alter unweigerlich eine Rolle.
Wackerbarth streift diese Überlegung, ohne sie systematisch oder gar thesenhaft zu bearbeiten. Denn „Casting“ ist vor allen Dingen eine spielfreudige Improvisationskomödie, die ihre Intensität, ihren „Drive“, aus dem Unvorhergesehenen, Ungeplanten zieht, aus Momenten der Irritation und des unangenehmen Berührtseins, aus schnellen Richtungswechseln. Die Handkamera ist wie ein Sensor, der auf jede noch so kleine Regung reagiert. Zwischen den verunsicherten oder sich zu sicher wähnenden Schauspielerinnen, der zaudernden Regisseurin Vera, dem vor dem Sender buckelnden Produzenten und einer zwischen sämtlichen Stühlen herumschlitternden Assistentin herrscht eine instabile Dynamik, die Wackerbarth bis in die feinstofflichsten Bereiche einfängt.
Die Figur des Anspielpartners Gerwin ist in dieser Dynamik ein ebenso formbares wie stures „Objekt“. Je mehr er von den Petra-Darstellerinnen als Karl adressiert wird, und von der Regisseurin als jemand, der Insiderwissen über die Produktion besitzt, desto mehr verschwindet der Platzhalter in ihm. Gerwin beansprucht in den Spielszenen immer mehr Raum, er dreht richtig auf und erweist sich gegenüber Regieanweisungen („mach mal weniger“) als ziemlich resistent, umso mehr, als er eine Chance wittert, tatsächlich besetzt zu werden. Außerhalb des Castings stiftet er durch vorlautes Ausplaudern und besser gemeinte Ratschläge Unmut und Verwirrung.
„Casting“ lebt ganz entscheidend von seinem virtuosen (und hervorragend gecasteten) Ensemble. In gewisser Weise verdoppelt und reflektiert der Film nicht nur die Erfahrung der Schauspielerinnen – schließlich mussten auch sie sich für die Rolle qualifizieren –; auch als Zuschauerin übernimmt man unweigerlich die Rolle der beurteilenden Instanz. Die Schauspielerinnen wiederum stehen innerhalb wie außerhalb des Films für verschiedene Positionen in der Film- und Fernsehwelt: etwa Corinna Kirchhoff (Theater), Andrea Sawatzki (prominente „Tatort“-Kommissarin) oder Marie-Lou Sellem, die man sowohl mit „Fernsehware“ als auch mit Arbeiten der Berliner Schule (Angela Schanelec, Franz Müller) assoziiert.
Das Fassbinder-Stück erweist sich als dankbarer Text, über aktuelle Abhängigkeiten und Machtasymmetrien zu sprechen. Wie der präzise Dialog mal die Figurenwelt, mal das Leben meint, wie die Darsteller aus ihren Figuren fallen und sich wieder hineinbegeben und wie das eine vom anderen mitunter einfach nicht mehr voneinander zu unterscheiden ist: Das alles macht „Casting“ zu einer experimentellen Erfahrung, von der man in der „echten“ Fernsehwelt natürlich nur träumen kann.
Esther Buss, FILMDIENST 2017/22