Neukölln Unlimited

  Mittwoch, 22. Oktober 2014 - 19:30 bis - 21:30

Eintritt: frei

Dokumentarfilm
Deutschland 2010
Kinostart: 8. April 2010
Produktionsfirma: Indifilm/Noirfilm/RBB
99 Minuten
FSK: ab 0; f
Verleih:GMfilms

Produktion: Arek Gielnik, Dietmar Ratsch    
Regie: Agostino Imondi, Dietmar Ratsch    
Buch: Agostino Imondi    
Kamera: Dietmar Ratsch    
Musik: Eike Hosenfeld, Moritz Denis, Tim Stanzel    
Schnitt: Agostino Imondi

Berlinale 2010: Gläserner Bär für besten Langfilm in der Sektion Generation 14Plus (gewonnen)
Preis der deutschen Filmkritik 2011 (nominiert)
Friedensfilmpreis 2010 (nominiert)
Buster Film Festival 2010, Copenhagen: für besten Dokumentarfilm (gewonnen)
Chicago International Children's Film Festival: für besten langen Dokumentarfilm (gewonnen)
Movies That Matter Film Festival, Den Haag; MovieSquad All Rights Award für besten Jugendfilm (gewonnen)
Deutscher Dokumentarfilmpreis (nominiert)

Filmhomepage, WikipediaProgrammkino.de, alle Daten zum Film auf Filmportal.de  
Pressespiegel  

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Kurzkritik Filmdienst:
Porträt dreier arabischstämmiger Geschwister, die im Berliner Bezirk Neukölln einen Alltag zwischen Abschiebungsangst, Existenzsicherung und HipHop-Karriere verbringen. Unterlegt mit mitreißenden Aufnahmen von Breakdance-Shows, wird in Form einer Quasi-Langzeitbeobachtung ein ständiger Überlebenskampf gegen die traumatisierende Abschiebungsangst protokolliert. Dabei wird die Diskussion über Parallelgesellschaften um die differenzierten Innenperspektiven betroffener Jugendlicher erweitert. - Ab 14.

 

Filmdienst auführliche Kritik:

 Rütli-Schule, arabische Gangs, klare Worte vom Bezirksbürgermeister, Kurt Krömer im Fernsehen und in Richtung Kreuzberg schon Szenekiez – das sind die gängigen Bilder von Neukölln, Berlins sozial schwächstem Bezirk, dem „Problembezirk“ mit hoher „Ausländerdichte“. In der Gegenöffentlichkeit sind „Rütli“ und „Neukölln“ inzwischen zum Label geworden, sicher auch für die Geschwister Akkouch, die sich zu Stars der Breakdance- und Musikszene hochgearbeitet haben. Die Leben hinter all diesen Klischees aber werden nur selten sichtbar. Der Dokumentarfilm „Neukölln Unlimited“, Gewinner der „Berlinale“-Sektion „14plus“, zeigt drei dieser fast schon exemplarischen Schicksale in Form einer Quasi-Langzeitbeobachtung. Die Akkouchs, Flüchtlinge aus dem Libanon, leben ohne Vater in einer engen Neuköllner Altbauwohnung. Hassan, der älteste Bruder, besucht das Gymnasium und tourt mit dem Breakdance-Ensemble „Fanatix“ durch Europa, Schwester Lial macht eine Ausbildung und singt in einer Rockgruppe, der kleine Bruder Maradona wurde von Dieter Bohlen als HipHop-Talent hochgelobt und kurze Zeit später wieder fallen gelassen. Geschichten vom permanenten Auf- und Abstieg: Die Akkouchs wurden bereits einmal abgeschoben, die Polizei kam in der Nacht vor Maradonas neuntem Geburtstag, nahm die Familie mit zum Flughafen („Wenn ihr wollt, könnt ihr auch ein Spielzeug mitnehmen“) und tröstete Lial, die wie ihre Geschwister in Berlin geboren wurde und kein Arabisch spricht, fadenscheinig mit den Worten: „In deiner Heimat wirst Du sicher auch wieder Freunde finden.“ Einige Wochen später kamen sie wieder und leben jetzt von Duldung zu Duldung. Ein Gefühl ständiger Bedrohung hängt in der Luft, Unsicherheit, die wütend macht. Die Filmemacher Agostino Imondi und Dietmar Ratsch beobachteten die Familie einige Jahre lang. Die Kamera wird Zeuge der Pubertät Maradonas, der mit ADS-Schwäche auf das Trauma der Abschiebung reagierte, aneckte, einen Totschläger mit zur Schule bringt, daraufhin suspendiert wird und sich eine Zeit lang in politischen Gruppierungen radikalisiert, die zur nächsten Intifada aufrufen. Für Bruder Hassan eine selbstzerstörerische, aber nachvollziehbare Entwicklung: Deutschland bietet Jugendlichen wie den Akkouch-Geschwistern keinen Halt, dafür aber jede Menge Angst, aus dem Land geworfen zu werden. So entstehen Parallelgesellschaften. Denn: Wo ist zu Hause? Hassan sagt von sich, er sei in der Nacht erwachsen geworden, als man ihn Richtung Beirut ins Flugzeug setzte: „Wir sahen aus dem Fenster, wie wir unsere Heimat verloren.“ Und die heißt Neukölln, wie Hassan, der auch als Rap-Sänger auftritt, auf einem Konzert anführt. „Wir kommen nicht aus dem Prenzlauer Berg, sondern aus Neukölln“, erklärt er vor einem Lied, in dem er meint, mit den israelischen Militäraktionen gegen Gaza drohe „ein zweiter Holocaust“.

Hier ticken die Uhren anders, aber nicht als die Zeitbomben, wie sie von außen in den Stadtteil hineingedichtet werden. „Neukölln Unlimited“ zeigt, dass hinter harten Statements ausgesprochen differenzierte Menschen stehen, die eine beeindruckende Stehauf-Mentalität entwickelt haben. Obwohl von polizeilichen Maßnahmen über die erstaunliche Weltfremdheit des Berliner Innensenators bis zu den gnadenlosen Tücken des Show-Geschäfts alle Weichen auf „Resignation“ gestellt sind. Ein Dokumentarfilm, der nah an seinen Protagonisten bleibt, deren Widersprüchlichkeiten ungeschönt protokolliert. Zu den Innenansichten gehört auch der Streit zwischen Hassan und seiner emanzipierten Schwester Lial über die „Vaterrolle“ in der Familie. Am Ende bleiben drei Jugendliche übrig, die ganz normal wären, wenn die Umstände aus ihnen nicht so etwas wie Alltagshelden gemacht hätten – mit Glitterfaktor. Der Erfolg der Geschwister ist sicher nicht exemplarisch, das emotionale Auf und Ab von Duldung zu Duldung freilich schon.
Bernd Buder, FILMDIENST 2010/7