Ich, Daniel Blake

  Freitag, 13. Januar 2017 - 20:30 bis - 22:20

Eintritt: 5,00 €


Großbritannien 2016
Kinostart: 24. November 2016
101 Minuten
FSK: ab 6; f

Regie: Ken Loach 
Drehbuch: Paul Laverty
Kamera: Robbie Ryan
Musik: George Fenton 
Schnitt: Jonathan Morris

Darsteller:
Dave Johns (Daniel Blake), Hayley Squires (Katie), Micky McGregor (Ivan), Dylan McKiernan (Dylan), Sharon Percy (Sheila), Briana Shann (Daisy), Colin Coombs (Postbote)
Fox, 77.559 in 7 Wochen ohne KDM, Flat (1,85:1)

 

Wie würde es einem „Daniel Blake“ in Deutschland ergehen? – Prof. Klaus-Dieter Kolenda zur sozialen Entrechtung durch die „Agenda-Reformen

 
Filmhomepage, WikipediaEPD-FilmProgrammkino.de  

Kritik
 von Andreas Kilb in der FAZ
Kritik auf Spiegel Online

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst
Ein britischer Zimmermann erleidet kurz vor dem Rentenalter einen leichten Herzinfarkt und ist erstmals in seinem Leben auf staatliche Hilfe angewiesen. Beim Kampf mit Anträgen und Formularen lernt er eine alleinerziehende Mutter kennen, die ähnlich erniedrigende Erfahrungen mit der Bürokratie gemacht hat. Trotz komödiantischer Töne liegt die Stärke der Inszenierung im politischen Zorn, mit dem Regisseur Ken Loach die Herzlosigkeit der verwalteten Welt und auf den Deregulierungswahn der Neokonservativen zurückführt. Biblische Anklänge in der Passionsgeschichte des Handwerkers sind dabei nicht zu übersehen.
Sehenswert ab 14.
Rüdiger Suchsland, FILMDIENST 2016/24

EPD 11/2016: ★★★★ (4 von 5 Sternen) - Frank Arnold
Loachs jüngster Film zeigt einen arbeitslosen Tischler im Räderwerk staatlicher Mangelverwaltung. Schnörkellos erzählt bis zum unversöhnlichen Ende, produziert er beim Zuschauer Anteilnahme und Wut.


Trailer (139 Sekunden):



ZDF-Aspekte - Ken Loach über seinen Film (4 Minuten):


Filmtipp von WDR-Kinozeit (9 Minuten)

Capriccio - Die Welt der Kunst und Kultur | BR Fernsehen


 

ausführliche Kritik Filmdienst
Der britische Regisseur Ken Loach erzählt von einem verwitweten Zimmermann aus Newcastle im Nordosten Englands. Daniel Blake kommt bald ins Rentenalter; kürzlich hat er einen leichten Herzinfarkt erlitten. Er kann und möchte wieder arbeiten, doch einen legalen Job zu bekommen, erweist sich aus formalen Gründen als überaus schwer. Mit viel Interesse am Detail lässt der Film an Daniels Kampf mit den Behörden teilhaben, der ungeachtet seiner Realitätshaltigkeit zunehmend absurde Züge trägt. Daniel braucht zwei behördliche Bescheinigungen, doch Arbeitsamt und Gesundheitsbehörde wollen ihm die eine ohne die andere nicht ausstellen, womit sie sich gegenseitig lahmlegen; der alte Mann fällt durchs Netz der Vorschriften ins Bodenlose.

Es ist ein aussichtsloser Kampf mit einer staatlichen Hydra, der zusätzlich deprimiert, weil Blake offenbar noch nie mit einem Computer gearbeitet hat und deshalb nicht weiß, wie man beispielsweise eine Maus bedient. Seine Überforderung rührt, entlarvt aber auch Loachs Blick auf die „Lower Class“-Figuren als paternalistisch und idyllisierend. Sind die meisten „kleinen“ Leute doch heute längst nicht so unerfahren mit modernen Techniken noch derart selbstlos und moralisch vorbildlich, wie es die weiteren Erzählstränge nahelegen. Vor allem in der Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihren zwei Kindern Opfer einer Zwangsräumung wurde. Blake kümmert sich rührend um sie, bastelt den Kindern Spielzeug, vermittelt Kontakt zu Sozialhelfern und lädt die Familie zum Essen ein.

Es ist kein Zufall, dass Loach seine Figur auch mit christlichen Attributen dekoriert: Daniel ist Zimmermann von Beruf, und er schnitzt den Kindern ausgerechnet Fische. Ebenso erlebt man Blake im Umgang mit Nachbarn als guten Mensch von Newcastle: immer fair, nie aufbrausend, zornig oder sonstwie emotional – ein harscher und beschämender Kontrast zu den frustrierenden Erfahrungen auf den Ämtern.

Auch wenn die Inszenierung immer wieder versucht, der Geschichte Momente der Leichtigkeit und des Komödiantischen zu geben, liegt die Stärke im politischen Zorn. Loach zeigt, was die Soziologie mit akribischen Begriffen herausgearbeitet hat: Dass der deregulierte Markt unendlich viel mehr formale Vorschriften und Regularien zur Disziplinierung der Menschen produziert als frühere Ökonomien, und dass Bürokraten zugleich mitleidsloser denn je agieren. Das Individuum und dessen besonderen Umstände gelten immer weniger.

Am Beispiel des Kämpfers Daniel Blake, dessen Mut und Witz, Energie und Enthusiasmus in der Mühle der verwalteten Welt zermahlen werden, beschreibt Loach eindringlich, wie die Bürokratie Menschen kaputtmacht, wie sich die Sozialämter hinter ihren Callcentern und Internetauftritten verstecken, neue, absurde Beschäftigungsspiele erfinden und Komplexität der Formulare und Verfahren derart steigern, dass viele so genannte Sozialhilfeempfänger frustriert aufgeben oder scheitern – jedenfalls die Statistik „befreien“. „Es ist eine monumentale Farce“, erkennt Daniel, „wir schreiben Bewerbungen für Jobs, die es gar nicht gibt.“ Auch die Verantwortlichen werden benannt: „All those fucking Tories.“

Es ist ein unaufhaltsamer Weg auf einer absteigenden Ebene. Daniel scheitert an allen Fronten. Am Ende, kurz vor einem entscheidenden Sozialverfahren, stirbt er an seinem zweiten Infarkt – auf der Behördentoilette. Die Botschaft, dass der Staat der Feind sei, die der selbsternannte Trotzkist Loach paradoxerweise mit den Neoliberalen teilt, ist da schon überdeutlich formuliert: „The state digged him to an early grave.“

In einer sehr pathetischen Beerdigung wird am Schluss ein Brief des Verstorbenen verlesen: „Ich bin kein ,Kunde‘, ich bin kein ,Klient‘, ich bettle nicht. Ich bin ein Bürger. Nicht mehr, nicht weniger.“

Die Mischung aus Idealisierung und Stereotypisierung widerspricht dem verbreiteten Eindruck des „Realismus“, ja des „Naturalismus“ in den Filmen des britischen Regisseurs. Nichts könnte falscher sein. Ken Loach steht in jeder Hinsicht für ein Kino als moralische Anstalt.

Rüdiger Suchsland, FILMDIENST 2016/24