Die Piroge

Dienstag, 10. September 2013 - 19:30

Eintritt: frei

Frankreich/Senegal/Deutschland, 2012
Kinostart: 18. April 2013
87 Minuten
Regie:  Moussa Touré
Buchvorlage:  Abasse Ndione (Roman "Mbëkë mi. A l'assaut des vagues de l'Atlantique")
Filmfest München 2012: ARRI-Preis, Bester Internationaler Film

Darsteller: 
Souleymane Seye Ndiaye (Baye Laye), Laïty Fall (Lansana), Malaminé "Yalenguen" Dramé (Abou), Balla Diarra (Samba), Salif "Jean" Diallo (Barry), Babacar Oualy (Kaba), Mame Astou Diallo (Nafy)

Alle Daten zum Film auf Filmportal
Jury der evangelischen Filmarbeit: Film des Monats April 2013 
Vision Kino 

Kurzkritik Filmdienst:
Eine Gruppe afrikanischer Flüchtlinge versucht wie unzählige Menschen vor ihr mit einem einfachen Fischerboot die Kanarischen Inseln zu erreichen. Bewegendes Drama, das mit dokumentarischem Gestus die komplizierte Vielfalt der Emigranten und ihrer Träume einfängt. Die Inszenierung konzentriert sich dabei weitgehend auf exemplarische Begebenheiten. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.

 

Filmdienst auführliche Kritik:

 Ein ausgelassenes Volksfest in einer Küstenstadt im Senegal. Bunt gekleidete Menschenmassen drängen sich um ein schmales Oval, in dem sich zwei Ringer mit viel exotischem Bohei für den Kampf rüsten. So erscheint es zumindest dem europäischen Blick. Doch am Rande des Spektakels geht es um etwas ganz anderes: um letzte Details der Emigration nach Europa. Ein Netz von Helfern und Nutznießern hat einen jener selbstmörderischen Trips organisiert, mit einem einfachen Fischerboot über den Atlantik bis zu den Kanarischen Inseln zu gelangen. Der bunt zusammengewürfelte Haufen der Flüchtlinge weiß um das Risiko, das schon Tausenden das Leben gekostet hat. Doch die Träume oder die Not wiegen schwerer.

Das wird in dem bestechend fotografierten Drama von Moussa Touré auch nie in Frage gestellt. Die Inszenierung konzentriert sich vielmehr mit fast dokumentarischem Gestus auf die Details des Unterfangens, was bei der Suche nach einem Kapitän beginnt, der noch immer nicht gefunden ist, als die meisten der Emmigranten schon tagelang auf die Überfahrt warten. Ähnlich wie in seinem Film „TGV-Express“ skizziert Touré mit dezentem Hang zu komödiantischer Überspitzung in einer Fülle kurzer Szenen die komplizierte Vielfalt der 30-köpfigen Reisetruppe, in der die unterschiedlichsten Ethnien, Sprachen und (Welt-)Anschauungen zusammengezwängt sind; während die einen von einer Karriere als Musiker oder Fußballer fantasieren, begnügen sich andere mit der Aussicht auf Arbeit in andalusischen Plantagen; Zyniker streiten mit Moralisten, Muslims verbünden sich mit Animisten; iphone trifft auf Ahnenbaum, und als blinder Passagier hat sich überdies eine Frau an Bord geschlichen. Ist das langgestreckte Boot jedoch erst einmal den rauen Winden und der sengenden Sonne ausgesetzt, ändert sich der filmische Rhythmus; die Vielstimmigkeit weicht zunehmend einer Dualität, die zwischen dem Kampf mit den Elementen und den wachsenden Spannung an Bord hin und her wechselt.

Das Drehbuch nach einem Roman von Abasse Ndione konzentriert sich dabei auf exemplarische Begebenheiten, die Touré eher lose nebeneinander reiht als in dramaturgisch strukturierte Erzählbögen überführt; nur die Begegnung mit einer anderen Piroge, die manövrierunfähig der Strömung und damit dem sicheren Verderben preisgegeben ist, zieht einverstörend langes Echo nach sich. Der Verzicht auf eine „Verplottung“ der Handlung führt auf der anderen Seiten allerdings dazu, dass die Inszenierung ihr Heil in einem Katastrophenszenario sucht; die Kombination aus monotoner Wasserwüste, sengender Sonne, Warten und Lebensgefahr mündet in eine filmisch nur unzureichend ausgearbeitete Folge sich steigernder Desaster, bis die Piroge ebenfalls seeuntüchtig Richtung Südamerika treibt.

Die Stärke dieses Erzählens liegt zweifellos im Perspektivwechsel, den es insbesondere einem westlichen Publikum zumutet. Der Verzicht auf strenge narrative Geschlossenheit insbesondere während der Überfahrt spiegelt nicht nur die um sich greifende Auflösung unter den Flüchtlingen wider, die am Ausgang ihres Unterfangens zu zweifeln beginnen; sie macht insbesondere augenfällig, dass die Kollektivbezeichnung „Afrikaner“ (oder wie weniger opportune Begriffen auch lauten mögen) nicht mehr als eine peinlich-beleidigende Hülse ist, die unser Nichtwissen kaschieren soll. Ähnlich souverän, wie Moussa Touré auf jede politische Auseinandersetzung mit den Gründen für die afrikanische Flucht nach Norden verzichtet, nimmt sich sein Film die Freiheit, jene Menschen näher zu bringen, die sich dabei in Lebensgefahr begeben: ohne sich ein Urteil über sie anzumaßen, dafür aber mit entschiedenem Bekenntnis zu ihrer jeweiligen Individualität.
Josef Lederle Kritik aus film-dienst Nr. 8/2013