Ein neues Leben - In grazia di Dio
Zu den Filmen der Sommerfilmreihe für Dahoamgebliebene "Ja, in Italien, wenn da sowas wär" gibt es jeweils eine kurze Einleitung und im Anschluss nach einer kurzen Pause eine moderierte Diskussion.
Eintritt frei
Reservierung 1 Euro
Ein neues Leben - In grazia di Dio
Italien 2014
Kinostart: 16. Juni 2016
127 Minuten
Regie: Edoardo Winspeare
Salento, Süditalien: Die eigene kleine Textilfabrik muss schließen, das Wohnhaus wird verkauft, eine Drei-Generationen-Familie kämpft um ihre Existenz. Nachdem ihr Bruder emigriert ist, sucht die energische Adele nach Auswegen. Ihre Schwester denkt nur daran, Schauspielerin zu werden, die halbwüchsige Tochter reagiert aggressiv, nur die Großmutter nimmt die Schicksalsschläge gelassen hin. Die einzige Möglichkeit, das tägliche Überleben zu sichern, liegt in der Feldarbeit und der Rückkehr zu einfachen Tauschgeschäften. Und genau das ist der Beginn eines Weges, auf dem die vier Frauen das Leben und vor allem ihre Zuneigung zueinander ganz neu erfahren.
Edoardo Winspeare erzählt eine Geschichte, die zugleich die Wirtschaftskrise und die Identität einer Region skizziert. Durch Solidarität und Selbstständigkeit finden die Frauen Lösungen, um sich der Übermacht der globalen Wirtschaft nicht beugen zu müssen.
Italienische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Presseheft vom Kairos Filmverleih Göttingen
Programmkino.de
Kurzkritik Filmdienst
Eine süditalienische Großfamilie muss ihre bisherige Existenzgrundlage einer kleinen Textilfabrik aufgeben, weil sie der Konkurrenz aus Asien nicht länger trotzen kann. Ein verwilderter Olivenhain soll ihnen eine neue Zukunft in der Landwirtschaft sichern. Während die Großmutter gelassen auf die Schicksalsschläge reagiert, fällt es ihren Enkeln weit schwerer, sich mit der neuen Situation anzufreunden. Der liebenswürdige Film, dessen Figuren von Laien dargestellt werden, wandelt auf den Spuren des poetischen Realismus und erweist Land und Leuten seine Reverenz. (O.m.d.U.) - Ab 14.
Trailer (111 Sekunden):
ausführliche Kritik Filmdienst
Schuldenkrise in Italien. Der verarmte Süden leidet besonders schwer. Wo findet man einen Ausweg, wenn man die Kredite für das eigene Unternehmen nicht mehr abstottern kann? Glücklich kann sich der schätzen, der da noch über fruchtbaren Grund und Boden verfügt, auf dem ein verwilderter, aber prächtiger Olivenhain samt Gartenhäuschen steht. Denn mit landwirtschaftlichen Qualitätsprodukten kann man sich nicht nur selbst ernähren, sondern auch Geld verdienen oder sie gegen Waren eintauschen.
Zunächst aber glaubt Adele, dass sie durch ihre neue Existenz als Bäuerin tief gesunken sei. Enttäuschung und Groll sitzen fest in ihrer Brust. Jahrelang ackerte sie als Managerin zusammen mit ihrem Bruder Vito in der Textilfabrik ihrer Familie, doch nun muss sie alles verkaufen. Zu der Großfamilie zählen drei Generationen: die 65-jährige Großmutter Salvatrice, Adeles Tochter Ina, Adeles Schwester Maria Concetta, die Frau des Bruders plus beider Kinder.
In diese Figuren hat Regisseur Edoardo Winspeare zugleich die sozialen Erfahrungen der jeweiligen Generation eingeschrieben. Mussten die Großeltern noch auswandern, um ihre Familie zu ernähren, konnten sie mit dem erwirtschafteten Geld dann doch eine Zukunft für sich und ihre Kinder aufbauen. Angesichts der billigeren Konkurrenz aus Asien aber deckt die eigene Textilfertigung nicht mehr die Kosten, die Töchter und Söhne müssen sich beruflich neu orientieren. Die Enkel haben dagegen überhaupt keine Perspektive mehr. Denn die Jugendarbeitslosigkeit ist in Italien überdurchschnittlich hoch. Darum sieht Ina auch keinen Sinn, sich zu bilden; sie hängt lieber mit ihrer Freundin beim Shopping ab oder vertreibt sich die Zeit beim Liebespiel mit ihrem Lover.
Der Film reiht sich in einen Reigen ähnlicher italienischer Werke wie Paolo Virzìs „Die süße Gier“, Andrea Segres „Venezianische Freundschaft“ oder Sydney Sibilias „Smetto Quando Voglio („Ich kann jederzeit aussteigen“, 2014) ein, welche die Wirtschaftskrise zum Ausgangspunkt nehmen. Deren Ursachen sind Edoardo Winspeare aber keine Analyse wert. Stattdessen heißt sein Rezept: Zurück zu den Wurzeln. Er zeigt, wie seine Figuren, ohne lange Klagelieder anzustimmen, die Ärmel hochkrempeln, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Damit widerlegt er die Vorurteile des Nordens, der den Süden am liebsten vom Kernland abspalten würde. Winspeares Film, der auf der Halbinsel Salento spielt, versteht sich vielmehr als charmante Würdigung der süditalienischen Menschen und ihrer Kultur. Die ist nun mal landwirtschaftlich geprägt und vom Stolz auf die regionalen Produkte beseelt. Überdies spielen die katholische Religion und „la mama“ eine zentrale Rolle. So ist das Oberhaupt der Familie die besonnene Großmutter, die nicht grundlos Salvatrice heißt. Sie besitzt ein großes Gottvertrauen und bewahrt die ständig streitende Sippe vor dem Zerfall, indem sie dezidiert daran erinnert, dass der Zusammenhalt in Krisenzeiten das höchste Gut sei, während ihre cholerische Tochter Adele die Mitmenschen mit ihrer ruppigen Art liebend gerne vor den Kopf stößt.
Formal hat sich der Film einem poetischen Realismus verschrieben. Nie verlieren die allesamt von Laien gespielten Figuren ihre Liebenswürdigkeit – trotz aller Übertreibungen, aller Lächerlichkeit oder Gemeinheit. Die fruchtbare, visuell reizvolle Landschaft wird auf Fahrten, mit Geräuschen, malerischen Totalen und Panoramaaufnahmen eingefangen und macht die Natur so zum Hauptmotiv, in das sich die Menschen als das kleinere Element einfügen. Das Brausen des Windes klingt stets ebenso im Ohr wie das Zwitschern der Vögel. Immer wieder hält die Kamera die Bebauung eines Grundstücks oder die Ästhetik einzelner Verrichtungen fest. So sieht man der Großmutter und ihrem Helfer beim Ernten von Fenchelknollen aus dem umbrabraunen Boden zu. Solche Aufnahmen vermitteln Bodenhaftung. Winspeare tritt mit seiner Verbeugung vor der süditalienischen Kultur und Mentalität angesichts des desolaten Zustandes dieser Region in die Fußstapfen von Francesco Rosis „Christus kam nur bis Eboli“. Allerdings fragt man sich beim Schlusstableau, das drei Frauen zur „Heiligen Familie“ verklärt, die sich auf dem Bett um die schwangere Enkelin herumlagern, ob die Krise aus dem Geist des „kleinen Glücks“ heraus wirklich gelöst werden kann.
Heidi Strobel, FILMDIENST 2016/12