Mustang

  Freitag, 22. April 2016 - 20:30 bis Freitag, 22. April 2016 - 22:15

Eintritt: 5,00 €

Türkei/Frankreich/Katar/Deutschland 2015
Kinostart: 25. Februar 2016

94 Minuten
FSK: ab 12; f
FBW: Prädikat besonders wertvoll
 
Regie: Deniz Gamze Ergüven    
Buch: Deniz Gamze Ergüven, Alice Winocour   
Kamera: David Chizallet, Ersin Gok    
Musik: Warren Ellis    
Schnitt: Mathilde van de Moortel    

Darsteller: Günes Sensoy (Lale), Doga Zeynep Doguslu (Nur), Elit Iscan (Ece), Tugba Sunguroglu (Selma), Ilayda Akdogan (Sonay), Nihal G. Koldas (Großmutter), Ayberk Pekcan (Erol), Bahar Kerimoglu (Dilek), Burak Yigit (Yasin), Erol Afsin (Osman)  
Weltkino, Scope, 88.000 in 7W

Auszeichnungen:
Deniz Gamze Ergüven: Europäischer Filmpreis 2015, Europäische Entdeckung des Jahres 
Nominiert für den Oscar 2016 als bester fremdsprachiger Film.
Obwohl das Doha Film Institute aus Katar den Film koproduziert hat, wurde "Mustang" in Katar verboten.

Presse:
Filmhomepage, Wikipedia, EPD-Film, Filmgazette, Programmkino.de, alle Daten zum Film auf Filmportal.de  
Süddeutsche Zeitung: Vergitterte Unschuld 
Spiegel: Fünf Mädchen für die Freiheit 
DIE ZEIT: Kein Blut auf dem Leintuch 
Frankfurter Rundschau: Das Ende der Unschuld 
taz: Freiheitsversprechen Istanbul
Die Welt: Für jede Türkin, jede Frau und jede Filmfreundin ist "Mustang" eine Zumutung 

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst

Für ein zwölfjähriges türkisches Mädchen und seine vier älteren Schwestern hat das unschuldige Herumalbern mit Jungen im Meer drastische Folgen. Aus Angst um den Ruf der Familie werden sie von ihrem konservativen Onkel und der Großmutter in ihr Wohnhaus verbannt, das zum Gefängnis wird. Bald folgen erste arrangierte Hochzeiten. Das aus der Sicht der jüngsten Schwester erzählte Drama durchsetzt die brisante, bedrückende Fabel durch warme Farben und sommerlich flirrende Bilder, vor allem aber durch den Blick auf die sinnliche Schönheit und die Lebensfreude der Heranwachsenden. So vermittelt sich intensiv ein Plädoyer für Freiheit und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, das über den engen regionalen Kontext der Handlung hinausweist.
Sehenswert ab 14


Trailer :




ausführliche Kritik Filmdienst

 Manchmal sind es die Blicke anderer, die etwas Unschuldiges ins Gegenteil verkehren. Und so wird der etwa zwölfjährigen Lale und ihren vier älteren Schwestern ein Moment voller Lebensfreude zum Verhängnis. Toben im blau glitzernden Meer mit Schulkameraden – eigentlich nichts Schlimmes, sollte man meinen. Wenn die Strukturen in der türkischen Provinz nur nicht so traditionell-konservativ wären und die Nachbarin nicht alles gesehen und brühwarm der Großmutter erzählt hätte. In deren Haus an der türkischen Schwarzmeerküste sind die Mädchen seit dem Tod ihrer Eltern bislang frei und unbeschwert aufgewachsen, nun aber sind sie zu weit gegangen: „Ihr habt euch an den Jungen gerieben!“
Es hagelt Vorwürfe, Ohrfeigen, Beschimpfungen. Der empörte Onkel, dessen selbstgerechte, im Film etwas plakativ wirkende Doppelmoral später deutlich werden wird, bringt seine Nichten ins Krankenhaus, wo sie untersucht werden. Ihre unversehrten Jungfernhäutchen sind Garant für den guten Ruf der Familie, für den Wert der Mädchen auf dem Heiratsmarkt, der nun eilig eröffnet wird – bevor es zu spät ist.
Für ihr Spielfilmdebüt hat sich die in der Türkei geborene und in Frankreich aufgewachsene Regisseurin Deniz Gamze Ergüven gewiss kein neues Sujet ausgesucht: Filme über unterdrückte muslimische Mädchen und Frauen – man denke etwa an „Die Fremde“ (2010) von Feo Aladag – gibt es viele. Doch auch wenn die Regisseurin mitunter auf gängige Metaphern zurückgreift, findet sie einen eigenen Zugang. Trotz aller Brisanz vermittelt ihr Film in warmen Farben und sommerlich flirrenden Bildern ein überraschendes Gefühl von Freiheit und Lebensfreude – und damit genau das, was sich die fünf Schwestern den Umständen zum Trotz erhalten wollen. Denn erst verschwinden ihre Computer, Handys und Schminktäschchen, dann werden ihre Jeans gegen unförmige Kleider getauscht, und schließlich wird das Haus eingezäunt, vergittert, zugemauert, gleichsam zu einer Festung. Statt Algebra und Englisch lernen sie nun, wie man kocht, putzt, näht und freundlich lächelnd Tee serviert. Ihr Zuhause ist eine „Fabrik für Ehefrauen“ geworden, wobei sich ihre Welt auch bildlich durch viele Naheinstellungen zunehmend verengt. Nicht nur der Körper der Mädchen soll kontrolliert werden, sondern auch ihr Freiheitsbestreben, ihr Inneres, ihre, wenn man so will, Seele. Ziel ist eine gefügige Ehefrau in spe. Doch ganz so einfach ist das nicht, denn die Mädchen sind – jede auf ihre Art – widerspenstig. Sonay reißt sich einen Schlitz ins Kleid und entflieht nachts zum heimlichen Rendezvous. Wie man Sex haben kann, ohne seine Jungfräulichkeit zu verlieren, weiß sie auch.
Zusammen mit Selma rekelt sie sich auf der vergitterten Terrasse in der Sonne. Nur und Lale springen in die Fluten einer rosa Decke, ist das echte Meer doch in unerreichbare Ferne gerückt. Als die Schwestern zu einem Fußballspiel ausreißen, werden sie ausgerechnet von den Frauen gedeckt, die sie eigentlich in den traditionellen Geschlechterrahmen pressen und damit die überholte Gesellschaftsform stützen. Doch vor allem ihr unerschütterlicher Zusammenhalt gibt den Mädchen Halt und Kraft. Entsprechend inszeniert die Regisseurin sie in all ihrer Schönheit sinnlich, aber nie sexualisiert, oft eng umschlungen – und gleicht damit Sofia Coppolas „The Virgin Suicides“ (1999), wobei Lale und ihre Schwestern weniger Projektionen als vielmehr bodenständige Teenager sind. Die Regisseurin sieht in ihren Heldinnen „eine Art Monster mit fünf Köpfen, das nach und nach seine Glieder verliert“. Denn die Zeit spielt gegen die Mädchen. Die arrangierten Ehen rücken unweigerlich näher. Erst verlassen Sonay und Selma als verheiratete Frauen das Haus, dann ist Ece an der Reihe, die ihrem Schicksal aber auf drastische Weise entkommt. Die Flucht ist im Genre des Gefängnisfilms das, worauf alles hinausläuft, und in „Mustang“ wird dabei ausgerechnet Lale zur treibenden Kraft. Sie, die Jüngste der Schwestern, sieht mit klarem Blick eine Zukunft, die sie nicht leben will. Anfangs mit kindlichem Trotz, dann aber immer zielstrebiger kämpft die kleine Rebellin für ihr Recht auf ein selbstbestimmtes und freies Leben. Nicht zuletzt damit verweist „Mustang“ über den gesellschaftlich-politischen Rahmen der Türkei hinaus in die westliche Welt, in der Mädchen und Frauen noch oft genug für Gleichberechtigung und gegen Sexismus kämpfen müssen.

Kirsten Taylor, FILMDIENST 2016/5