Anomalisa

  Freitag, 18. März 2016 - 20:30 bis Freitag, 18. März 2016 - 21:30

Wir empfehlen zuerst die Videokritik von Dietmar Dath  (160 Sekunden) zu sehen und danach die Filmbesprechung von ZDF "Neu im Kino" (206 Sekunden).

 

Eintritt: 5,00 €

USA 2015
Kinostart: 21. Januar 2016
91 Minuten
FSK: ab 12; f

Produktion: Rosa Tran, Duke Johnson, Charlie Kaufman, Dino Stamatopoulos  
 

Regie: Charlie Kaufman und Duke Johnson     
Drehbuch: Charlie Kaufman  (u.a.: Being John Malkovich, Vergiss mein nicht!, Adaption - Der Orchideendieb)
Vorlage: Charlie Kaufman (Theaterstück "Anomalisa")    
Kamera: Joe Passarelli    
Musik: Carter Burwell    
Schnitt: Garret Elkins   
Paramount, Scope, 33.360 Zuschauer in 7 Wochen

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst

Ein ausgebrannter Motivationstrainer nimmt seine Umwelt nur noch als zähen Brei und die Mitmenschen als gleichförmige Masse wahr. Während einer Vortragsreise lernt er in einem Hotel in Cincinnati eine schüchterne Frau kennen, die sich von den anderen unterscheidet. Der außergewöhnliche Puppenfilm entwirft mit im 3D-Drucker produzierten Figuren und altmodischer Stop-Motion-Animation einen Albtraum, in dem alle Menschen identisch aussehen und gleich sprechen. Das Hotel wird zum Ort existenzieller Leere, bei dem Individualität keine Rolle spielt, während der Liebe eine besondere Bedeutung zukommt, weil sie den Einzelnen aus der Masse hervorhebt. Ein eigenwillig schöner, in jeder Hinsicht besonderer Film.
Sehenswert ab 14.  

Filmhomepage, Wikipedia, EPDProgrammkino.de

Text- und Videokritik des genialen Dietmar Dath in der FAZSex ist verpuppte Liebe 
Charlie Kaufmans zugleich zarter wie sensationeller Trickfilm „Anomalisa“ erzählt von der Liebe zweier Marionetten ohne Fäden, die nicht von Dauer sein darf, aber eine ganze Welt verändert. ...
Videokritik von Dietmar Dath  

Süddeutsche Zeitung: Der melancholische Puppentrickfilm "Anomalisa" von Charlie Kaufman ist ein bezauberndes Kinokunststück über Einsamkeit und Entfremdung

Die Zeit: Charlie Kaufmans Stop-Motion-Film "Anomalisa" ist einer der filigransten und traurigsten Filme des Jahres

Der Spiegel: Einen so verblüffenden, entlarvenden, schmerzhaft ehrlichen Film über die Liebe gibt es ganz selten zu sehen. ... Kaufmann liefert mit "Anomalisa" ein unerwartetes Meisterwerk ab.

 

 Bericht (206 Sekunden) von ZDF Neu im Kino:



Trailer (2 Minuten):



ausführliche Kritik Filmdienst

 Michael Stone ist Motivationstrainer, seine Ratgeber verkaufen sich gut. Aktuell befindet er sich auf einer Vortragsreise durch Amerika und hat soeben im „Al Fregoli“, einem Business-Hotel in Cincinnati, eingecheckt. Sein schleppender Gang und sein hängender Kopf deuten auf eine große Erschöpfung hin. Stone steckt in der Krise. Er motiviert andere und weiß sich selbst keinen Rat. Ein kurzer Anruf nach Hause zeugt von einem unglücklichen Familienleben mit entfremdeter Ehefrau und gleichgültigen Kindern. In seiner Einsamkeit kommt Stone auf die Idee, wo er doch schon einmal in Cincinnati ist, eine hier lebende Ex-Freundin anzurufen: Bella. Das Treffen in der Hotelbar endet in einer Katastrophe – Bella hat die Trennung nie verwunden: Warum hat er sie damals, vor zehn Jahren, bloß verlassen? Das Bedauern über eine verpasste Lebenschance teilt sich dem Zuschauer unmittelbar mit. Später lernt Stone zwei Frauen kennen, weibliche Fans, die nur seines Vortrages wegen von weit her angereist sind. Intuitiv fühlt er sich zu der schüchternen Lisa hingezogen. In einer Welt, in der buchstäblich jeder gleich aussieht, ist Lisa einfach anders als die anderen. Gemeinsam verbringen sie die Nacht miteinander. Lisa könnte die Lösung für all seine Probleme sein. Ein Neubeginn?
Die bloße Inhaltsangabe verschweigt etwas Wesentliches: Hier sind keine Schauspieler am Werk, wie man vielleicht zunächst meinen könnte, sondern Puppen, hochmodern im 3D-Drucker entstanden und ganz altmodisch mit Stop Motion zum Leben erweckt. Neue und alte Technik gehen eine geglückte Verbindung ein, ebenso wie Stil und Inhalt, wie Form und Funktion. Die Wirkung ist verblüffend – diese Menschen wirken „echt“, und wäre da nicht jene feine Naht, die ein großes Quadrat im Gesicht hinterlässt, könnte man fast von Realismus sprechen.
„Anomalisa“ heißt der neue Film von Charlie Kaufman. Er liebt es, die Fäden in der Hand zu halten, explizit als Marionettenspieler in „Being John Malkovich“ oder übertragen als Autor in „Adaption“. Ursprünglich war der Film als Hörspiel konzipiert und wurde bereits 2005 bei Carter Burwells „Theater of the New Ear“-Projekt auf Bühnen in New York und Los Angeles uraufgeführt. Für die Kinofassung versicherte sich Kaufman der Hilfe des Stop-Motion-Experten Duke Johnson. Mehr als 5.000 Kaufman-Fans steuerten auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter.com über 400.000 Dollar bei, doppelt so viel wie erhofft. Kaufman beschäftigt nur drei Schauspieler: David Thewlis spricht Michael Stone, Jennifer Jason Leigh spricht Lisa, Tom Noonan leiht seine Stimme allen anderen Figuren. Dahinter steckt natürlich Methode, ein erster Hinweis darauf ist der Name des Hotels: „Al Fregoli“. „Fregoli“ heißt auch eine psychische Erkrankung, bei der Patienten davon überzeugt sind, dass sich Mitmenschen äußerlich verändert haben oder andere sind, obwohl sie gleich aussehen. Auch Stone leidet an diesem „Fregoli-Syndrom“: Egal, ob im Flugzeug, im Taxi, an der Hotel-Rezeption, in der Bar, auf dem Flur oder im kafkaesk großen Büro des Hotelmanagers, wo zahlreiche Sekretärinnen Dienst tun: Hier sieht jeder gleich aus und hört sich gleich an.
Was zunächst noch komisch wirkt, wandelt sich allmählich zum klaustrophobischen Albtraum. Das Hotel wird so zum Ort existenzieller Leere. Von Individualität, von Einzigartigkeit, kann in dieser hermetisch geschlossenen Welt keine Rede sein. Die Menschen sind gewöhnlich, die Welt ist langweilig; wenn einem in diesem Setting jemand völlig anderes begegnet, ist dies eine Offenbarung. Sich zu verlieben heißt in Charlie Kaufmanns Universum, einen Menschen zu finden, der sich von allen anderen heraushebt. Das führt hier zu einer der schönsten Liebesszenen, weil sie so zärtlich, schlicht und echt ist. Die Tatsache, dass es sich dabei um animierte Puppen handelt, macht diesen Moment nur noch kraftvoller. „Anomalisa“ ragt aus dem gegenwärtigen Kinoschaffen mindestens genauso heraus wie Lisa unter den Gästen im Hotel.
Mit anderen Worten: Charlie Kaufman hat einen eigentümlich schönen, in jeder Hinsicht besonderen Film inszeniert.

Michael Ranze, FILMDIENST 2016/2