Ihr werdet euch noch wundern

Freitag, 27. Dezember 2013 - 20:30

Ihr werdet euch noch wundern
Vous n'avez encore rien vu
Korrekt übersetzt: "Sie haben noch nichts gesehen." oder "Ihr habt noch nichts gesehen.""

Eintritt: 5,00 €

Frankreich/Deutschland, 2012
Kinostart: 6. Juni 2013
110 Minuten
Regie: Alain Resnais 
(u. a.: Hiroshima, mon amour (1959), Letztes Jahr in Marienbad (1961), Das Leben ist ein Chanson (1997), Herzen (2006), Vorsicht Sehnsucht (2009) -  diese Filme waren über die Jahre alle im achteinhalb zu sehen.)

Buch: Alex Reval, Laurent Herbiet
Buchvorlage: Jean Anouilh (Bühnenstück "Eurydike")
Kamera: Eric Gautier
Musik: Mark Snow
Verleih: Alamode über Filmagentinnen, Cinemascope
Dieser Film hat in Deutschland in sechs Wochen 3.669 zahlende Zuschauer in die Kinos gelockt. Im gleichen Zeitraum hat "Fack Ju Göhte" 4.635.855 Zuschauer "gemacht".

Darsteller: Sabine Azéma (Sabine Azéma / Eurydike 1), Anne Consigny (Anne Consigny / Eurydike 2), Pierre Arditi (Pierre Arditi / Orpheus 1), Lambert Wilson (Lambert Wilson / Orpheus 2), Michel Vuillermoz (Michel Vuillermoz / Vincent), Michel Piccoli (Michel Piccoli / Vater), Anny Duperey (Anny Duperey / Mutter), Mathieu Amalric (Mathieu Amalric / Monsieur Henri), Hippolyte Girardot (Hippolyte Girardot / Dulac), Jean-Chrétien Sibertin-Blanc (J.-C. Sibertin-Blanc / Sekretär des Kommissars)

Filminfo bei Alamode, Filmgazette, Programmkino.de, alle Daten zum Film auf Filmportal 
Pressespiegel

Die Zeit: Ein alter Schelm lässt die Puppen tanzen
die taz: Abschiedsfilm von Alain Resnais -  Auf Eurydikes und Orpheus’ Spur 
Filmgazette: Eine hybride Feier des Kinos (von Ulrich Kriest)

Der Kameramann:  Éric Gautier: real und irreal bei Alain Resnais’ IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN 
Der Standard: Sabine Azéma: "Resnais hat auch eine maliziöse Seite!" 
Perlentaucher: Wie ein Ladendieb
Der Spiegel: Alterswerk von Alain Resnais: Die Toten und die Liebenden
Die Süddeutsche Zeitung:
Der SWR zu Resnais und diesen Film

Kurzkritik Filmdienst

Nach dem Tod eines Theaterautors versammeln sich 13 Schauspieler in seinem Haus, um sich die "Eurydike"-Aufzeichnung einer jungen Truppe anzusehen. Während des Screenings verstricken sich die Trauergäste, die zu verschiedenen Zeiten alle einmal selbst in einer der vielen Eurydike-Inszenierungen des Toten mitgewirkt haben, zunehmend in dem Stoff, wobei sich Darsteller- und Rollenidentität ebenso vermischen wie Fiktion und Wirklichkeit, Leben und Tod. Ein brillanter Film von Alain Resnais über Nachbarschaften und Differenzen von Film und Theater. - Sehenswert ab 16.

ausführliche Kritik

Schon der Vorspann zeugt von der Durchdringung heterogener Formen, einer Mischung aus Soap und Historienstück: antike Darstellungen von Orpheus und Eurydike vor rosa-blauem Wolkenhimmelkitsch. Mit einer Vorführung in Wiederholung und Vermischung von Schauspieler- und Figurenidentität geht es seltsam weiter. 13 Schauspieler, die mit ihrem richtigen Namen vorgestellt werden – darunter Sabine Azéma und Pierre Arditi, Darsteller, die seit Jahrzehnten für das Kino von Alain Resnais stehen – erhalten einen Anruf mit der Todesnachricht des gefeierten Theaterautors Antoine d’Anthac und eine Einladung, sich in dessen feudalem Landhaus einzufinden. Man sieht sie jeweils im Halbprofil, den Telefonhörer am Ohr, abwechselnd am linken und rechten Bildrand.

Wenn die Schauspieler im Anschluss nacheinander den Salon von Antoine betreten, die Zugluft der geöffneten Tür dabei immer wieder ein paar Herbstblätter ins Innere weht und im Hintergrund die Sicht auf eine gemalte Landschaft eröffnet wird, haben sich Film und Theater schon längst gegenseitig durchdrungen. Die Tür stellt ein wiederkehrendes Motiv dar: ein Portal in eine andere, auch ästhetische Wirklichkeit. Die meisten Übergänge von einer in die andere Kunst -und Darstellungsform sind jedoch fließend und unsichtbar, das erst erzeugt den wahren Schwindel in Resnais’ Film.

Die versammelten Freunde haben alle zu verschiedenen Zeiten in Antoines Stück „Eurydike“ mitgewirkt (das Drehbuch basiert im Übrigen auf Jean Anouilhs Eurydike-Modernisierung von 1941) und sollen nun die auf Video aufgezeichnete Inszenierung einer jungen Theatertruppe begutachten. Während also der Film ständig Formen des Bühnenhaften, Künstlichen einbaut, dringt mit der Videoaufzeichnung etwas (Medien)fremdes ein.

Das Theaterstück, das der Regisseur Bruno Podalydès ohne Einmischungen von Resnais inszeniert hat, folgt einer gänzlich anderen Ästhetik. Das Setting ist weitaus weniger gesetzt und artifiziell – ein Fabrikgebäude, alte Ölfässer stehen herum, die Schauspieler tragen moderne Alltagskleidung – die Kamera ist bewegt und konterkariert die visuelle Präzision des Resnais’schen Films. Dabei wird die eine Form durch die andere eingerahmt: die Videoleinwand nämlich ist in die marmorne Wand eingelassen, der wiederum ein bewegliches Landschaftsbild als Vorhang dient.

Allmählich nimmt das Eurydike-Stück Besitz von den Schauspielern – und dem Film. Haben sie den Text anfangs noch verhalten mitgesprochen – als erinnerten Text, noch leicht zeitverzögert – gehen sie nun ganz in ihrer Rollenidentität auf. Die Sprache wird zu neuem Leben erweckt und löst sich von der Reproduktion; aus dem Zitat wird ein gelebter (oder einfach nur brillant gespielter) Affekt. Der Text scheint dabei permanent zu zirkulieren: zwischen Leinwand und Publikum, aber durch die Mehrfachbesetzung einiger Rollen auch unter Antoines Mitstreitern. Orpheus und Eurydike gibt es etwa in drei verschiedenen Altersklassen, manche Rollen dagegen nur einmal.

Auf diese Weise steht Mathieu Amalric, der den Kellner spielt, plötzlich in einer doppelten Inszenierung, einmal mit Lambert Wilson, ein anderes Mal mit Pierre Arditi. Schöne Verwirrung entsteht auch durch das räumliche Spiel. So ist das Haus von Antoine mit den Schauplätzen des Stücks aufs Merkwürdigste verbunden und die Schauspieler finden sich von einem Moment auf den anderen plötzlich auf einem Bahnsteig, in einer Wartehalle oder in einem Hotelzimmer wieder.

Eine Übung in Dekonstruktion ist „Ihr werdet euch noch wundern“ dennoch nicht, auch wenn Resnais sicherlich keinen Stein auf dem anderen lässt. Wenn etwa Eurydike fürchtet, dass Orpheus sie ansieht und damit dem Tod weiht, schraubt sich das Spiel der Schauspieler zu höchster Intensität hoch. Nur Verlass ist darauf nicht. Was hinter der Tür – oder nach dem nächsten Schnitt, dem nächsten Atemzug – wartet, ist ungewiss: „Vous n’avez encore rien vu“.
Esther Buss Kritik aus film-dienst Nr. 12/2013