Gunda

  Donnerstag, 18. November 2021 - 19:30 bis - 21:10

 
 

 
Eintritt: 7,50 €

Norwegen 2019
Kinostart: 19. August 2021
93 Minuten
FSK: ab 12; f

Regie: Victor Kossakovsky
Drehbuch: Victor Kossakovsky · Ainara Vera 

Kamera: Egil Håskjold Larsen · Victor Kossakovsky 
Schnitt: Victor Kossakovsky · Ainara Vera 

FBW: Prädikat besonders wertvoll

Filmwebseite  

Kritiken: 
Kritik von Silvia Bahl im Filmdienst (4 von 5 Sternen)
Kritik von Alexandra Seitz im Filmmagazin EPD (4 von 5 Sternen)
Kritik von Bianka Piringer in Spielfilm.de (4 von 5 Sternen)
Kritik von Janick Nolting auf artechock Film
Kritik von Thomas Groh auf Deutschlandfunkkultur
Kritik von Jörg Thomann in der FAZ
Kritik von Dagny Lüdemann in der Zeit
Kritik von Claudia Lenssen in der taz
Kritik von Fabian Tietke in der taz
Kritik von Wolfgang Nierlin in der Filmgazette
Kritik von Cosima Lutz in der Welt
Kritik von Martina Knoben in der Süddeutschen Zeitung
Kritik von Christiane Peitz im Tagesspiegel
Kritik von Christina Bylow in der Berliner Zeitung
Kritik von Lars Dolkemeyer auf Kinozeit
Kritik von Gaby Sikorski auf Programmkino.de (Gilde deutscher Filmkunsttheater)

Kritik von Anja für die Vegane Gesellschaft Schweiz
Kritik von Thora Panicke für Provieh
Kritik von Paula Peckmann für die Weltierschutzgesellschaft (WTG)

Interview mit  Regisseur Victor Kossakovskyvon Christina Bylow in der Frankfurter Rundschau 
Interview mit  Regisseur Victor Kossakovskyvon Pamela Jahn im ray Filmmagazin



Trailer (80 Sekunden):

ausführliche Kritik Filmdienst
Eindringliches Doku-Poem über Hausschweine, Hühner und Kühe auf norwegischen Biobauernhöfen, das durch seine kunstvoll gestaltete Nähe zu den Tieren ihr Recht auf ein Leben in Würde unterstreicht.

Gebettet auf einen Heuhaufen liegt die Sau Gunda in dem kleinen schwarzen Quadrat, das den Eingang zu ihrer aus verwitterten Holzlatten gezimmerten Behausung bildet, und gebiert über ein Dutzend Ferkel. Ein gewöhnlicher, selten beachteter Moment im Leben eines sogenannten „Nutztieres“ wird schon in der ersten Szene zu einem leinwandfüllenden Ereignis.

Drei Jahrzehnte lang musste der russische Dokumentarfilmregisseur Victor Kossakovsky um die Finanzierung dieses Projektes kämpfen. Angesichts der Fülle an Tierfilmen, vor allem für das Fernsehen, stellte sich immer wieder die Frage, was „Gunda“ diesem Genre noch hinzufügen könnte. Die Antwort liegt auf der konzeptuellen Ebene: Hier geht es nicht darum, in hochauflösender Farbpracht die „Tierwelt“ abzubilden und den Zuschauern wie bei einem Besuch im Zoo vorzuführen. Kossakovsky holt seine tierischen Protagonisten mit der Kamera nicht nur zu Studien- oder Unterhaltungszwecken nahe heran. Er schafft im Sinne des Kinos Großaufnahmen, die in der durch sie entstehenden Nähe die Grenzen zwischen den Arten als fließenden Übergang erscheinen lassen.

Die Entscheidung, in Schwarz-Weiß zu drehen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Das Monochrome verleiht den Bildern eine abstrakte Qualität, die von Kossakovsky bewusst ans frühe Kino angelehnt wird. Durch das Zurücktreten der Farbe auf den Schauplätzen der norwegischen Bauernhöfe, in denen der Film situiert ist, verlagert sich daher die Aufmerksamkeit auf Bewegung und Gestalt der Tiere. Die Großaufnahme hat einen ähnlichen Effekt wie der Anblick eines menschlichen Gesichts. Die Einzigartigkeit des Gegenübers wird in seinem Ausdruck deutlich, der zugleich ein kommunikativer Akt der Ansprache ist.

Tierischer Eigensinn

Wie verhält es sich aber bei einer Face-to-Face-Situation mit Tieren? Kossakovsky nutzt für die Aufnahmen ein Kamera-Arrangement, das er in die Umgebung von Gunda und ihren Mitbewohnern nahtlos integriert. Dafür wurde der Stall des Hausschweins nachgebaut und mit einer 360-Grad-Steuerung für die Kameras ausgerüstet. Bei den Aufnahmen der kleinen Ferkel wird schnell deutlich: In der Nahsicht entstehen aus einem Wimmelbild bald eigene Charaktere, deren Ausstrahlung man sich kaum entziehen kann.

Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber beim Anblick von „Gunda“ wird es einem schmerzhaft bewusst: Tiere haben einen Eigensinn, sie sind bis zu einem gewissen Grad auch individuiert, und natürlich leiden sie, wenn man ihren sozialen und umweltlichen Zusammenhang zerstört. Das Wissen darum wird gerade bei Nutztieren meist geleugnet, um nicht darüber nachdenken zu müssen, welche Voraussetzungen die eigenen Ernährungsgewohnheiten haben.

Neben Gunda und ihren Frischlingen begleitet die Kamera auch eine eben aus der Käfighaltung entlassene Hühnerschar sowie eine Herde älterer Kühe.

Die Zeit für Kossakovskys Film ist nach so vielen Jahrzehnten endlich reif, da der Zeitgeist sich in größerem Umfang der Frage des Tierwohls angenommen hat. Der Schauspieler Joaquín Phoenix, der sich auch als Produzent des Films engagiert, tritt ebenso für Veganismus ein wie der Regisseur Kossakovsky. Die Bauernhöfe in Norwegen sind „Bio“ und bilden ein Gegenkonzept zur konventionellen Massentierhaltung, in der Nutztiere, die eigentlich 20 Jahre alt werden können, nach zwei bis vier Jahren zur Schlachtung freigegeben sind. „Gunda“ ist von diesen Überlegungen deutlich geprägt, ohne dieses Anliegen allerdings ideologisch zu instrumentalisieren.

Ringelschwanz und Grunzkonzert

Auch der Verzicht auf Musik zugunsten einer in Dolby Atmos aufgenommenen Umgebung der Tiere trägt viel dazu bei, dass die Botschaft des Films sich nicht primär moralisch aufdrängt. Sie ergibt sich viel subtiler über den Fokus auf eine Mutter und ihrer Bezogenheit auf ihre Kinder, eine Konstellation, die in „Gunda“ viel mehr affektive Involvierung erzeugt, als man vermuten würde. Abgesehen davon, dass die kleinen Ferkel mit ihren Ringelschwänzchen an Niedlichkeit kaum zu überbieten sind, fasziniert die Interaktion zwischen der Muttersau und ihren Neugeborenen immer aufs Neue und lädt zu Projektionen ein.

Diese können auch beängstigender Natur sein, etwa als die unbeeindruckte Gunda mit der ganzen Schwere ihres immensen Gewichts eines der Ferkel tottritt, ohne es zu realisieren. Es dauert eine Weile, bis sich eine soziale Bindung zwischen den Tieren eingestellt hat und die Kleinen ihrer Mutter auf Schritt und Tritt folgen.

Auf der Tonebene wird deutlich, wie intensiv die Tiere die ganze Zeit miteinander kommunizieren. Es ist erstaunlich, wie viele Facetten ein Grunzen annehmen kann. Und auch die zerrupften Hühner sind auf ihre Umgebung sehr bezogen. Durch die lange Beobachtung hat man das Gefühl, ihre inneren Denk- und Abwägungsprozesse miterleben zu können: Es dauert sehr lange, bis ihre Krallen sich vorsichtig aus dem Käfig auf das unbekannte Gras hinauswagen.

Ein Leben in Würde

Dabei ist es für „Gunda“ zentral, dass es nicht um eine Vermenschlichung geht, sondern um abstrakte Ähnlichkeiten, in denen sich die Arten berühren. Darunter fällt die Sorgebeziehung der Säugetiere zwischen Mutter und Kind, aber auch das Phänomen der sozialen Kooperation, wie etwa bei den Kühen, die sich paarweise aufstellen, um sich gegenseitig mit dem Schwanz die lästigen Fliegen aus dem Gesicht zu fegen.

„Gunda“ zeigt auch Unterschiede zwischen den Arten, die einer menschlichen Vereinnahmung entgegenwirken. Viele Laute und Bewegungen der Tiere bleiben rätselhaft; das Bewusstsein von Menschen funktioniert anders; man kann sich nur ansatzweise in die Tiere hineinfühlen. Daraus ergibt sich weniger eine zwangsläufige Hierarchie als eine universelle Verantwortung, die sich aus der Würde der Tiere ableitet, die der Film auf eindrückliche Weise nahebringt.

„Gunda“ ist nicht nur ein stummes Plädoyer für das Recht jedes Wesens auf ein gewaltfreies Leben, sondern auch eine kunstvolle Entfaltung der visuellen Möglichkeiten des dokumentarischen Films.


Eine Kritik von Silvia Bahl