All my loving – Eine Geschichte von drei Geschwistern
eigener Text Kino achteinhalb:
Fünf Filme in einem: Prolog mit den drei Geschwistern, dann konzentriert sich der Film auf jede der Geschwister in einer eigenständigen Episode und als Epilog dieser filmischen Familienaufstellung finden sich alle Familienmangehörigen in einem hoffnungsfrohen Moment vereint. Bereits mit einem Bein in Hollywood hat Regisseur Edward Berger (»Jack«, »The Terror«) ein unaufgeregtes Drama mit einigen komischen Zwischentönen über drei Geschwister um die Vierzig aus gutsituiertem Elternhaus gedreht. In einer Lebensphase, in der man es schon mal wagen dürfte, eine erste Bilanz zu ziehen, hat sich bei allen dreien Stillstand in unterschiedlichster Form verfestigt, der sie mehr oder weniger unvorbereitet zu treffen scheint und ihr bürgerliches Selbstverständnis krisenhaft erschüttert.
Stefan (Lars Eidinger) ist Pilot, der krankheitsbedingt nicht mehr in den Cockpit darf. Seine Symptome sind Hörverlust und Schwindelgefühle – gleichsam wird ihm, der kein Ohr für andere (nicht mal für seine Tochter) hat, vor Augen geführt, dass er (schon lange) sein Gleichgewicht verloren hat und ins Schlingern geraten ist. Wie seine Geschwister erkennt er nur mühsam, dass Wendepunkte es erfordern, sich neu zu orientieren und nicht sich an Vergangenem festzuhalten.
"Close your eyes and I'll kiss you / Tomorrow I'll miss you"
Eintritt: 5,00 €
Deutschland 2019
Kinostart: 23. Mai 2019
116 Minuten
FSK: ab 12; f
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Ehepaar Edward Berger & Nele Mueller-Stöfen
Kamera: Philipp Haberlandt und Jens Harant
Musik: Volker Bertelmann alias Hauschka
Schnitt: Barbara Toennieshen
Darsteller:
Lars Eidinger (Stefan Hoffmann) · Nele Mueller-Stöfen (Julia Hoffmann) · Hans Löw (Tobias Hoffmann) · Manfred Zapatka (Pit Hoffmann) · Christine Schorn (Ebba Hoffmann) · Godehard Giese (Christian) · Mathilde Berger (Vicky) · Franziska Hartmann (Maren) · Philipp Hochmair (Nico) · Valerie Pachner (Klara) · Zsa Zsa Inci Bürkle (Lisa) · Valerie Koch (Jennifer) · Merle Wasmuth (Tina) · Tinka Fürst (Fanny) · Anna Ferzetti (Livia)
Filmhomepage, WIKIPEDIA, Presseheft, alle Daten zum Film auf Filmportal.de
Kritiken:
Kritik von Patrick Seyyboth im Filmmagazin EPD (3 von 5 Sternen)
Kritik von Esther Buss im Filmdienst (3 von 5 Sternen)
Kritik von Arno Raffeiner auf Kunst und Film (5 von 6 Sternen)
Kritik von Knut Elstermann auf mdr (4 von 5 Sternen)
Kritik von Anna Grillet für Kultur-port (4,5 von 5 Sternen)
Kritik von Christian Horn auf Programmkino.de
Kritik von Christian Schröder im Tagesspiegel
Kritik von Elmar Krekeler in der Welt
Kritik von Andreas Klib in der FAZ
Kritik von Beatrice Behn auf Kino-Zeit.de
Kritik von Matthias Pfeiffer auf artechock film
Kritik von Antje Wessels
Kritik von Wilfreid Hippen in der taz
Interview von Danny Marques Marcalo mit Lars Eidinger für NDR-Kultur
Interview von Stefanie Schlünz mit Lars Eidinger für T-online
Interview von Claudia Palmer mit Regisseur Edward Berger für RDN
Porträt des Regisseurs und Filmkritik im Spiegel
"All My Loving"-Regisseur Edward Berger
Hollywood hat angerufen, aber...
Edward Berger ist mit der britischen Serie "Patrick Melrose" bekannt geworden. Sein neuer Film "All My Loving" ist trotzdem sehr deutsch. Porträt eines Künstlers, dessen Karriere gerade durch die Decke geht.
Trailer (118 Sekunden):
Berlinale Nightalk zu "All my Loving" Knut Elstermann im Gespräch mit Regisseur Edward Berger (7 Minuten)
Edward Berger interview: All My Loving (Geschwister) at Berlin Film Festival 2019 (14 Minuten auf englisch)
FilmFestSpezial Arthouse-Filmmagazin – Filmkritik (3 Minuten)
ausführliche Kritik Filmdienst
Drei Geschwister erfahren in der Mitte des Lebens den Verlust von Sicherheiten und bürgerlichen Standards. Ein als Triptychon angelegtes Drama über eine Generation, die sich in ihren besten Jahren verloren wähnt.
Bevor „All My Loving“ zum Triptychon wird, dessen Akte sich nacheinander den drei Hauptfiguren widmen, werden die Geschwister Stefan, Julia und Tobias zusammen eingeführt. Der Schauplatz, ein Restaurant mit austauschbarem Chic wirkt dabei gleichsam wie eine Bühne. Stefan, der älteste Bruder, sitzt schon da – etwas verdunkelt, er ist noch nicht in seiner Rolle –, als zunächst Tobias und wenig später Julia eintreffen oder eher: auftreten. Stefan gibt sich weltmännisch. Als Pilot kennt er die guten Hotels in Turin und anderswo, die Burrata bestellt er mit angeberischer Routine. Julia muss gleich wieder weg, den Mantel zieht sie erst gar nicht aus – „Bruno“ warte im Auto. Tobias hat drei Kinder und schreibt seit Ewigkeiten an seiner Diplomarbeit; der „immer ich“-Vorwurf steht ihm schon ins Gesicht geschrieben, ausgesprochen wird er aber trotzdem.
Grund des Treffens ist der Vater. Er hat seinen Pfleger vergrault und weigert sich, den Arzt aufzusuchen. Die Aufgabe, gelegentlich nach den Eltern zu schauen, bleibt am Jüngsten hängen; als Hausmann hat er ja immer Zeit. Denn: Julia fährt mit ihrem Mann nach Turin. Und Stefan muss derweil Rocco betreuen – ihren Hund.
Verlusterfahrungen und unerfüllte Wünsche
Die Schablonenhaftigkeit, mit der das Drehbuch von Edward Berger und Nele Mueller-Stöfen im Prolog die Figuren skizziert, wird „All My Loving“ (der Titel eines schönen „Beatles“-Songs) bis zum Ende nicht los. „Eine Geschichte von drei Geschwistern“ nennt sich der Film im Untertitel. Letztlich geht es aber weniger um die Geschwisterverhältnisse und welche Rollen Julia, Tobias und Stefan innerhalb des Familiengefüges einnehmen, als vielmehr um die Erschütterungen, denen sie in ihrem (bürgerlichen) Selbstverhältnis ausgesetzt werden. Sie haben mit Verlusterfahrungen und unerfüllten Wünschen zu tun.
Porschefahrer Stefan darf nicht mehr fliegen, seitdem er an Schwindel und Gehörverlust leidet. Seine (vor allem: männliche) Identität hängt aber an der Rolle des unabhängigen Weltbürgers, der heute hier, morgen dort und für jeden One-Night-Stand zu haben ist. Da er um die Strahlkraft seines Berufs bei den Frauen weiß (vom Imageverlust durch den Billigtourismus kann hier keine Rede sein), zieht er seine Uniform einfach weiterhin an und spielt an der Hotelbar den Piloten. Wie ausgehöhlt seine Rolle ist, fällt ihm erst auf, als alle anderen ihn längst peinlich finden – vor allem seine Teenager-Tochter Vicky.
In Turin ist eine andere Fassade am Bröckeln. Julia stürzt sich mit mütterlichem Übereifer auf einen verletzten Straßenhund, ihr Mann wird dabei zum bedröppelten Zuschauer eines hochneurotischen Szenarios, das sich allzu deutlich als Ersatzhandlung zu erkennen gibt. Berger lässt sie zudem so nah an der Grenze zur Lächerlichkeit agieren, dass man kaum Empathie für die traumatisierte Frau aufbringt.
Das Elternhaus als Baustelle
Im dritten Teil findet Tobias, der die Kinderbetreuung vorübergehend an seine berufstätige Frau abgegeben hat, sein Elternhaus als Baustelle wieder. Während der tyrannische Vater körperlich immer mehr abbaut, lässt die Mutter das Haus renovieren. Tobias hält sich in dem Chaos für unverzichtbar, doch seine Helferattitüde kommt eher schlecht an. Vor allem beim Vater, der ihn verachtet, weil er kein eigenes Geld verdient. Die Metaphorik ist auch hier etwas durchsichtig; dennoch wirkt dieser Teil deutlich offener und trotz der morbiden Stimmung geradezu luftig – nicht zuletzt dank zahlreicher situationskomischer Momente.
Am Ende addieren sich die Krisen der Geschwister zum Porträt einer Generation, die in der Mitte ihres Lebens fast wieder am Anfang steht. Der Epilog schließt „All My Loving“ wie ein Vorhang. Es ist ein luftdichter Abschluss.
Eine Kritik von Esther Buss