Atlas

  Freitag, 07. Juni 2019 - 20:30 bis - 22:20
Ein älterer Möbelpacker (Rainer Bock), der bei einer Zwangsräumungsfirma arbeitet, trifft nach Jahrzehnten seinen Sohn wieder. Ohne sich ihm zu erkennen zu geben, will er ihn vor den kriminellen Praktiken seiner Firma bewahren, doch gelingt es ihm nicht, den Sohn davon abzuhalten, im Kampf um seine Wohnung nachzugeben. Das lebensechte und konzentriert entwickelte Drama lotet die Tragik seiner Vater-Sohn-Geschichte mit psychologischem Feingefühl aus und profitiert von brillanten Darstellern. Vielschichtig und mit Sympathie gelingt auch die Zeichnung eines randständigen sozialen Milieus, ohne dessen deprimierende Seiten zu dramatisieren. – Sehenswert ab 16. 

Eintritt: 5,00 €

Deutschland 2018
Kinostart: 25. April 2019
100 Minuten
FSK: ab 12; f
FWB: Prädikat besonders wertvoll 

Regie/Drehbuch: David Nawrath
Kamera: Tobias von dem Borne 
Musik: Enis Rotthoff 
Schnitt: Stefan Oliveira-Pita 

Darsteller:
Rainer Bock (Walter Scholl) · Thorsten Merten (Alfred Hoppe) · Uwe Preuss (Roland Grone) · Albrecht Schuch (Jan Haller) · Mohammad-Ali Behboudi (Hadi)
Roman Kanonik (Moussa Afsari) · Nikolay Sidorenko (Henning) · Nina Gummich (Julia)

Filmhomepage, alle Daten zum Film auf Filmportal.de

Kritiken:
Kritik von Jens Balkenborg im Filmmagazin EPD (3 von 5 Sternen)
Kritik von Heidi Strobel im Filmdienst (4 von 5 Sternen)
Kritik von Michael Meyns auf Programmkino.de

Kritik von Bert Rebhandl in der FAZ
Kritik von Josef Grübl in der Süddeutschen Zeitung
Kritik von Elmar Krekeler in der Welt
Kritik von Carolin Weidner in der taz
Kritik von Christina Bylow in der Berliner Zeitung
Kritik von Axel Timo Purr auf artechock film
Kritik von Oliver Armknecht auf Filmrezensionen.de
Kritik von Christopher Diekhaus auf Kino-Zeit.de und auf Kunst und Film

Interview von Martin Schwickert mit Rainer Bock für den Tagesspiegel 

Porträt von Peter Kümmel über Rainer Bock in der Zeit
Porträt von Kaspar Heinrich über Rainer Bock im Spiegel

  
Trailer (101 Sekunden):


ausführliche Kritik Filmdienst
Lebensechtes und konzentriert entwickeltes Drama über einen älteren Möbelpacker und die Zufallsbegegnung mit seinem Sohn, das die Tragik der Entfremdung psychologisch feinfühlig auslotet und auch in der Milieudarstellung überzeugt.

Walter hat einen Knochenjob. Der 60-Jährige arbeitet als Möbelpacker bei einer Firma, die im Auftrag eines Gerichtsvollziehers Wohnungen räumt. Er ist ein stiller Geselle, der sich mit keinem anlegen will und jede Art von Streit meidet. Gleichmütig verrichtet er seine Arbeit. Abends geht er müde nach Hause und legt sich auf die glänzenden weißen Fliesen seines Küchenbodens. Die kühlen den Schmerz, der ihm nicht nur in den Knochen sitzt, und spiegeln zugleich die Härte gegen sich selbst. So hält er sich aufrecht. Doch da taucht ein Schatten aus der Vergangenheit auf. Eines Morgens stellt sich seiner Kolonne ein äußerst wehrhafter Mieter entgegen. Es stellt sich heraus, dass der Räumungstitel aufgehoben wurde, was dem Gerichtsvollzieher aber nicht bekannt war. Walter erkennt in dem Mieter erschüttert seinen Sohn Jan. Als der vier Jahre alt war, wurde ihm seinerzeit von der Ehefrau der Kontakt untersagt. Den nimmt er jetzt auf, ohne sich aber als Vater zu erkennen zu geben.

Walter will Jan davon überzeugen, dass es für ihn besser sei, die Wohnung aufzugeben. Denn er kennt die Geschäftspraktiken seines Chefs. Der hat sich mit einem kriminellen Clan eingelassen, der über Entmietung und Verkauf Geld wäscht. Einer seiner Mitglieder, der latent gewalttätige Moussa, fungiert als Aufpasser, ist seit neuestem Teil der Räumungskolonne. Nun soll der Sohn unabhängig von dem gerichtlichen Verfahren, mit kriminellen Mitteln, aus der Wohnung vertrieben werden. Aber wie es der Vater auch anstellt, der Sohn will den Ernst der Lage nicht einsehen.

Ein Milieu, das eher selten auf die große Leinwand findet

David Nawrath hat sich für seinen Spielfilm-Debüt auf ein Milieu eingelassen, das eher selten auf die große Leinwand findet. Er zeichnet es konzentriert, lebensecht und mit psychologischem Feingefühl, ohne dessen deprimierende Seiten zu dramatisieren. Dabei gibt er Einblicke in verschiedene kulturelle Formen des Familienlebens und schildert mit leichter Hand Lebens- und Arbeitsbedingungen am Rande der Gesellschaft. Walter lebt in einfachen Verhältnissen. Er ist ein alleinstehender Mann, der sich emotional zurückgezogen hat. Seine Beziehung und seine Familie gingen vor langer Zeit in die Brüche, danach hat er sich offenbar auf niemanden mehr näher eingelassen. Gesellschaft findet er im Kreis seiner Kollegen, sie sind eine Art Ersatzfamilie geworden. Mit ihnen sitzt er an Weihnachten zusammen und feiert ein wenig. Nawrath differenziert nach Generationen. Stolz reicht ein junger Kollege ein Bild seiner bald vierjährigen Tochter herum, welche die gleichaltrigen Kollegen allesamt süß finden. Der ältere, misanthropische Kollege Alfred hingegen warnt den jungen Mann vor der Zukunft. Jahre später werde sich bei ihm das gleiche Schicksal wie bei ihm wiederholen: Dann werde die erwachsene Tochter in ihrem Vater nur noch einen Unterhaltszahler sehen.

Nawrath geht der Frustration dieser Männer auf den Grund. Am Beispiel der Beziehung von Walter und Jan zeigt er facettenreich auf, warum sie immer wieder scheitern müssen. Sie gehen in Deckung, taktieren, lassen aber auch nicht locker, wenn ihnen die Pein schon im Gesicht geschrieben steht. Das ist ihre Tragödie. Denn wie der Titel verheißt, glauben sie alle, gleich des griechischen Titans, die Welt, ihre Welt, ganz allein auf ihrem Rücken stemmen zu müssen. Sie laden sich damit aber viel zu schwere Lasten auf, sind verdammt, sich vergeblich abzumühen. Das führt der Film unmissverständlich vor Augen. Damit Walter seinen Sohn überhaupt erreichen könnte, müsste er sich ihm gegenüber als Vater offenbaren. Damit wäre allerdings sein prekäres emotionales Gleichgewicht gefährdet.

Der Möbelpacker steckt noch in einem zweiten Dilemma

Gleichwohl steckt der Möbelpacker noch in einem zweiten Dilemma. Um seine Arbeit zu behalten, muss er loyal gegenüber dem Chef sein. Die Situation eskaliert, als Walter beim Sohn nicht durchdringt, ihm seine zunehmende Gefährdung nicht verdeutlichen kann. Jan wiederum will wie der Vater seine Familie nur schützen. Wie ein Löwe verteidigt er sein Heim, ohne die kriminelle Bedrohung in ihrer Tragweite zu erkennen. Dabei ist Gewalt auch für ihn ein Mittel der Wahl. Die meisterhafte Kameraarbeit von Tobias von dem Borne, der man anmerkt, dass er auch bei Michael Ballhaus studiert hat, vermittelt, wie die Fassung des Sohnes bröckelt.

Das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis wird von seinen beiden Darstellern kongenial mit Leben erfüllt. Rainer Bocks minimalistisches Mienenspiel überträgt noch die feinsten Regungen in seinem Inneren, während Albrecht Schuch als leidenschaftlicher und warmherziger Vater für sich einnimmt. So ist David Nawrath ein eindrucksvolles und nuanciertes Debüt geglückt, an dem man gebannt Anteil nimmt.

Eine Kritik von Heidi Strobel