Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot
Eintritt: 5,00 €
Deutschland 2016
Kinostart: 22. November 2018
174 Minuten
FSK: ab 0; f
Regie: Philip Gröning
Produzenten: Philip Gröning, Philipp Kreuzer
Drehbuch: Philip Gröning, Sabine Timoteo
Kamera: Philip Gröning
Schnitt: Philip Gröning, Hannes Bruun
Musik: Serge Gainsbourg, The Residents
Darsteller:
Josef Mattes (Robert), Julia Zange (Elena), Urs Jucker (Erich), Stefan Konarske (Adolf), Zita Aretz (Cecilia)
Filmhomepage, Wikipedia, Philip Gröning Filmproduktion
alle Daten zum Film auf Filmportal.de
Kritiken:
Kritik von Felix Zwinzscher in der Welt
Kritik von Elmar Krekeler in der Welt
Kritik von Michael Meyns auf Programmkino.de
Kritik von Wolfgang Nierlin in der Filmgazette
Kritik von Rüdiger Suchsland auf artechock film
Kritik von Thomas Assheuer in der Zeit
Kritik von Manuel Scheidegger im Philosophie Magazin vom 15. November
Kritik von Claudia Lenssen im Filmmagazin EPD
Kritik von Christiane Peitz im Tagesspiegel
Kritik von Matthias Dell im Spiegel
Kritik von Beatrice Behn auf Kino-Zeit.de
Interview von Hanns-Georg Rodek mit Regisseur Philip Gröning in der Welt
Interview mit Regisseur Philip Gröning in der Westdeutschen Zeitung
Interview mit Regisseur Philip Gröning im Deutschlandfunk
Daniel Kothenschulte im Filmdienst: Der Regisseur Philip Gröning im Porträt
Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung
Die Rache der Künstler
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Kurzkritik Filmdienst:
Ein Zwillingspaar hat sich für ein Wochenende auf der idyllischen Wiese eines Hochplateaus im Schwarzwald niedergelassen. Der Bruder unterstützt seine Schwester bei den Vorbereitungen auf deren Abiturprüfung in Philosophie. Das von Augustinus- und Heidegger-Lektüren inspirierte Nachdenken über Zeit, Wahrheit, Gegenwart und Zukunft verwandelt sich unter Einfluss von Alkohol und Hormonen dabei aber zunehmend in ein explosives Gemisch. Die kunstvoll geflochtene, aber auffällig humorlose Konstellation aus Zwillingsexistenz, Pubertät, Geborgenheit und Trennungsangst, Eifersucht, Philosophie und Gewalt suggeriert allerdings eine Tiefe und Zwangsläufigkeit, die der Film trotz seiner formal bestechenden Gestaltung nicht einzulösen vermag.
Ab 16.
Ulrich Kriest
Trailer (96 Sekunden):
ausführliche Kritik Filmdienst:
Kunstvoll geflochtenes, dabei Tiefe und Zwangsläufigkeit nicht immer einlösendes Drama von Philip Gröning um ein Zwillingspaar, deren enge Beziehung sich an einem Wochenende zwischen Geborgenheit und Trennungsangst,Philosophie-Lektüre und Gewaltausbruch als explosive Konstellation erweist.
„Das kannst du mit deiner Schwester machen!“ „Wo ist der Zwilling?“ Solche zu Beginn des Films eher nebenher ausgesprochenen Sätze vermitteln den Eindruck, dass die symbiotische Beziehung der Zwillinge Elena und Robert ihrer Umwelt nicht verborgen geblieben ist. Doch jetzt wird alles anders. Elena macht Abitur, Robert muss das Jahr wiederholen, obschon er fürs enthusiastisch-ausschweifende Philosophieren, der „Arbeit an der Wahrheit“ zuständig ist. Tatsächlich philosophiert er auch vor, nach und beim Sex mit Elenas bester Freundin Cecilia, was diese als eher störend empfindet. Was in der Nacht mit Cecilia geschah, macht Elena wiederum sehr neugierig. Sie möchte es gerne von Robert erzählt bekommen und ist eher eifersüchtig auf die Erfahrung, die Robert vielleicht gemacht hat, als auf Cecilia.
Am Montag hat Elena ihre Abiturprüfung im Fach Philosophie. Für eine Wochenendration Freibier hat sich Robert bereit erklärt, gemeinsam mit Elena das Thema „Was ist Zeit?“ noch einmal zu durchdenken: „Die erste Begegnung mit der Welt ist das Staunen. Mit dem Staunen beginnt Welt. Mit dem Staunen beginnt Philosophie.“ Zum Lernen haben sich die Geschwister ins Freie begeben. Inmitten der Natur lassen sie sich nieder und breiten Bücher und Notizzettel aus. Eine in der Nähe gelegene Tankstelle, allein auf weiter Flur, sorgt für Bier und Sanitäranlagen.
Man staunt nicht schlecht über die Location, die Philip Gröning (der Regisseur im Porträt) für „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ gefunden hat. Von diesem abseits gelegenen Hochplateau aus, mit seinen Feldern und den mächtigen Windrädern, deren Schatten immer wieder unbekümmert übers Grün ziehen, hat man einen Blick auf die auch im Sommer schneebedeckten Alpen, andererseits findet sich in einem nahen Tal ein kleiner, recht tiefer See, mit von Algen getrübtem Wasser. Dies ist eine Kindheitsidylle reiner Gegenwart, die bald nur noch eine Erinnerung sein wird. Noch wissen die Protagonisten, wie sie sich setzen müssen, um den Sonnenuntergang etwas länger zu bestaunen.
Hautnahe Studien der Pubertät
Gröning, der hier einmal mehr auch für die Kameraarbeit verantwortlich zeichnet, geht in der Manier von Terence Malick ganz nah an die Körper in der Natur heran, registriert die Geborgenheit und auch die rituellen Handlungen, die die unzertrennlichen Geschwister für sich gefunden haben. Wie ein „Doppelplanet“ (Gröning) umkreisen die Geschwister einander, necken und verstecken sich, spielen miteinander, fummeln und zanken, tauchen um die Wette und lassen sich treiben. Allein schon Roberts Rücken ist ein Wunderwerk pubertärer Hautprobleme. Trotzdem lässt sich Robert von Bier, Augustinus und Heidegger zum Nachdenken über „Sein und Zeit“ inspirieren, über sich entbergende Wahrheit und Antworten, die auf die richtigen Fragen warten, während Elena, immer noch eifersüchtig, ihrem Bruder eine Wette anbietet. Noch vor ihrer Abiturprüfung will auch sie Sex haben. Falls sie diese Wette verliere, bekäme Robert den VW Golf, der ihr zur Belohnung fürs bestandene Abitur versprochen ist. Falls sie gewinne, hätte Robert einen Wunsch frei. Alles dürfe er sich wünschen, nur keinen Gegenstand.
Mit dieser Wette ändert sich die Tonlage des Films, denn während Robert Cecilia auf seine totalisierende Weise liebt, sind für Elena ab sofort alle Kunden, die an der Tankstelle halten, und natürlich auch die beiden Angestellten mit Namen Adolf (sic!) und Erich (sic!), potenziell ein Mittel zum Zweck. Die Zeit dehnt sich. Eine Grille begleitet die Geschwister durch den Tag und beweist große Geduld und Überlebenswillen. Einmal schaut der jüngere Bruder an der Tankstelle vorbei und erinnert ans Abendbrot. Doch die Zwillinge spielt lieber gemeinsam ein Spiel oder kicken mit Erich, dem liebenswert-sanften Tankwart, der immer alles bemerkt und freundlich anmahnt, er habe nichts zu verschenken. Er wird sich noch wundern.
Am Samstagabend ist Robert betrunken und muss in der Tankstelle seinen Rausch ausschlafen, während Elena mit Erich einen Ausflug macht, ihn zu verführen versucht und ihm dabei von ihrem Lieblingslied von Serge Gainsbourg vorschwärmt: „La Javanaise“.
Bis die Situation eskaliert
Nachdem Robert schon am ersten Tag mit einer Wasser-Pumpgun die Tankstellen-Kundschaft „terrorisiert“, ist man wenig überrascht, dass die Situation eskaliert, als plötzlich eine echte Pistole in der Handlung auftaucht. Fast schon spielerisch verwandeln sich die Geschwister in „enfants terribles“ und okkupieren die Tankstelle. Elena nutzt die günstige Gelegenheit, ihre Wette zu gewinnen. Was Robert wiederum so wütend macht, dass er auf vorbeifahrende Autos zu schießen beginnt. Anschließend wird – endlich, könnte man sagen – das Inzesttabu gebrochen und zugleich die Trennung vollzogen. Robert steigt in ein ungleich besseres Fahrzeug als einen VW Golf und braust davon, während Elena übernächtigt in die Schule – auch hier eine schöne Verdoppelung alternativer psychischer Befindlichkeiten – eilt, um ihre Prüfung abzulegen.
Hatte sie ihrem redseligen Bruder philosophisch bislang erstaunlich wenig entgegenzusetzen, so liefert sie jetzt einen blendenden Vortrag über eine nur in der Erinnerung existierende Melodie, der sich als Aufforderung zur reflexiven Re-Lektüre des Films geradezu aufdrängt. Dass der Zuschauer im Lauf der Zeit jede einzelne Szene des Films zu einem für ihn stimmigen Erzählfluss formt, ist nach fast drei Stunden Laufzeit allerdings eine nicht gerade umwerfende Erkenntnis. Grönings Diktum vom „Erfahrungsraum“, den er mit seinen Filmen stets aufs Neue entwirft und anbietet, ist immer auch als explizite Kritik am Konventionellen gedacht, das die Möglichkeiten des Mediums grundlos und vorschnell unterlaufe. Im Falle von „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ ist indes aber zu fragen, ob die kunstvoll geflochtene und auffällig humorlose Konstellation aus Zwillingsexistenz, Pubertät, Geborgenheit in der Natur, Trennungsangst, Eifersucht, Heidegger-Lektüre(n) und Gewalt-Explosion tatsächlich die Tiefe und Zwangsläufigkeit besitzt, die sie suggeriert. Ob Robert mit anderen Lektüre-Präferenzen seine Schwester nicht zur Mutprobe mit geladener Waffe herausgefordert hätte? Oder nochmal anders gewendet: Landet ein junger deutscher Mann, der im Hochschwarzwald philosophiert, automatisch – ohne einen Impuls zur Selbstironie – auf dem „Holzweg“, bei Erich oder Adolf?
Eine Kritik von Ulrich Kriest