Die Jagd

Freitag, 03. Januar 2014 - 20:30

Eintritt: 5,00 €

Dänemark/Schweden, 2012
Kinostart: 28. März 2013
115 Minuten
Verleih: Wild Bunch über Central, Scope, 100.723 Zuschauer in 14 Wochen

Regie: Thomas Vinterberg  (Das Fest)
Drehbuch: Thomas Vinterberg und Tobias Lindholm
Kamera: Charlotte Bruus Christensen    
Musik: Nikolaj Egelund    
Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud    

Darsteller: Mads Mikkelsen (Lucas), Thomas Bo Larsen (Theo), Annika Wedderkopp (Klara), Lasse Fogelstrøm (Marcus), Susse Wold (Grethe), Anne Louise Hassing (Agnes), Lars Ranthe (Bruun), Alexandra Rapaport (Nadja)

Mads Mikkelsen, Cannes 2012, Bester Darsteller
Ferner erhielt der Film in Cannes den Preis der ökumenischen Jury.
Bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises 2012 erhielt Die Jagd fünf Nominierungen (bester Film, beste Regie, Darsteller – Mads Mikkelsen, Drehbuch, Schnitt). Die Drehbuchautoren Tobias Lindholm und Vinterberg gewannen den Preis.

WIKIPEDIA, Programmkino.de, Filmhomepage, Filmgazette      
Pressespiegel   
Filmtipp der Zeit als Videorezension
Der Standard: Interview mit Thomas Vinterberg "Wir können Kinder nicht vor dem Leben schützen" 
Die TAZ: Lynchmob-Stimmung in der Provinz 
Deutschlandfunk: Entlarvende Hexenjagd plus Link zu einen Interview mit Thomas Vinterberg  
Die Süddeutsche Zeitung: Dein Feind, die Gemeinschaft  
Die FAZ: Dänen schlagen sich die Köpfe ein 
Der Spiegel: Missbrauchsfilm "Die Jagd": Der Mann muss ein Schwein sein  

Kurzkritik Filmdienst

In einem dänischen Dorf wird ein introvertierter Mann des sexuellen Missbrauchs beschuldigt, weil eine Fünfjährige aufgeschnappte Sätze nachplappert. Ehe er sich versieht, bricht eine Welle der Aggression über ihn herein, die seine bisherige Existenz unter sich begräbt. Das Pendant zu Thomas Vinterbergs früherem Film "Familienfest" (1997) ist bar jeder "Dogma"-Ästhetik und bemerkenswert eindeutig in seiner Haltung. Die ökonomische Inszenierung registriert aufmerksam die um sich greifende Paranoia der Öffentlichkeit und verdichtet sich zusehends zu einer moralischen Parabel, ohne dabei die gesellschaftlichen Mechanismen aus den Augen zu verlieren. - Sehenswert ab 14.

 

ausführliche Kritik Filmdienst

Nach dem Inzestdrama „Das Fest“, mit dem Thomas Vinterberg 1998 die „Goldene Palme“ in Cannes gewann, und seinem letzten Film „Submarino (2010), der das desaströse Schicksal zweier Brüdern verfolgte, die in ihrer Kindheit psychischen und körperlichen Misshandlungen ausgesetzt waren, greift der dänische Regisseur mit „Die Jagd“ das Missbrauchsthema erneut, aber unter umgekehrten Vorzeichen auf. Was passiert, wenn sich der wegen angeblicher pädophiler Neigungen zum Täter stigmatisierte Held als das eigentliche Opfer entpuppt? Der arbeitslose Lehrer Lucas, von seiner Frau verlassen, kämpft sich durch eine Lebenskrise und findet einen neuen Job in einem Kindergarten. Als sein pubertierender Sohn den Wunsch äußert, nach der Scheidung bei ihm einzuziehen und eine jüngere Geliebte am Horizont auftaucht, scheint es wieder aufwärts zu gehen. Ohnehin scheint der freundliche Mann in der Dorfgemeinschaft bestens integriert. Die Männer des Ortes zelebrieren ihre Zusammengehörigkeit mit Vorliebe durch die Teilnahme an trinkseligen Jagdausflügen, bei denen das Töten wehrloser Tiere für den sozialen Kitt sorgt und die Männer ihre Rangordnung vermessen lässt. Das virile Provinzstandardprogramm, das der introvertierte Lucas unwillig absolviert. Wäre da nicht eine Fünfjährige, die plötzlich Interesse für männliche Genitalien zeigt und bei einer Kindergärtnerin den Verdacht weckt, das sexualisierte Geplapper des Kindes könnte etwas mit dem neuen Erzieher zu tun haben, zumal dieser auch der beste Freund des Vaters ist. Weitere perfide suggestive Befragungen lassen scheinbar keinen Zweifel daran, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden sein muss; zu realistisch sind ihre Angaben, um lediglich als Fantasie abgetan zu werden. Dass die Ursache für die Erzählungen im näheren Geschwister-Umfeld zu suchen wäre, oder gar in einem latent amourösen Verhältnis der Kleinen zu ihrem Betreuer, auf diese nächstliegenden Spuren ein Augenmerk zu werfen, sieht sich niemand mehr genötigt, selbst dann nicht, als das Mädchen beginnt, ihre geplapperten Anschuldigungen zurückzunehmen. Eine Hexenjagd beginnt, angepeitscht von Menschen, die gerade noch als Kollegen und Nachbarn ein harmonisches Miteinander pflegten und auf puren Verdacht hin kurz davor stehen, zur Selbstjustiz zu greifen. Vinterberg seziert die einzelnen Phasen des kollektiven Sinneswandels behutsam und mit Sinn für sich langsam steigernde Dramatik. Von Anfang an ergreift er Partei für den Ausgestoßenen, der fassungslos jede Verteidigung unterlässt und nicht nach Möglichkeiten sucht, seine Version zu äußern. Wozu auch. Das Urteil über seine Person ist längst gefallen. Zu gut passt er ins Bild des unauffälligen und pädagogisch begabten Kinderschänders. Daran kann auch seine natürliche Autorität nichts ändern, die ihn seine Unschuld viel zu lange lediglich durch provozierende Passivität beteuern lässt. Andererseits ist der mögliche Tatbestand nicht von der Hand zu weisen. Die um sich greifende Paranoia kommt nicht von ungefähr und fußt auf kollektiven Erfahrungswerten, die das rechtzeitige Reagieren und gerade nicht Wegschauen als logische Notwendigkeit erscheinen lassen. Ein Dilemma, das die verängstigten Eltern ihre Urteilskraft verlieren lässt, bis weitere um sich greifende Missbrauchsfälle endlich die ernüchternde Wahrheit ans Licht bringen. Es ist neben der ökonomischen Inszenierung dem klugen Drehbuch von Tobias Lindholm zu verdanken (der auch mit einigen Folgen der herausragenden Fernsehserie „Borgen“ seine Fähigkeit unter Beweis stellte, komplexe Gesellschaftskritik in ungemein spannende Handlungsbögen zu packen), dass man am Geschehen dran bleibt, obwohl der Ausgang früh zu erahnen ist. Eine weitere Moralparabel aus dem beneidenswerten Dänemark, die nicht zuletzt dank der mitreißenden Schauspieler ins Mark allzu bequemer Gewissheiten trifft.
Alexandra Wach, Filmdienst 7/2013
 
 
Porträt von Mads Mikkelsen in der Ausgabe 7/2013 des Filmdienst:

Der Prinz von Dänemark
Mads Mikkelsen und sein eindrucksvolles Rollenspektrum

Mads Mikkelsen ist derzeit einer der „heißesten“ männlichen Stars der Welt. Geboren 1963, wird der Däne nicht nur als „The Sexiest Man Alive“ gehandelt, sondern ist vor allem der wichtigste Schauspieler seiner Generation. In mindestens einem Dutzend Filmen wird er in den nächsten Monaten zu sehen sein.
Sein Geheimnis sind sein ungewöhnliches Gesicht und dessen vollkommene mimische Ausdruckskraft. Mikkelsen strahlt Härte aus und zugleich unglaubliche Zärtlichkeit. Wenn es darauf ankommt, kann er Killer, Mafia-Boss und Bösewicht in einem James-Bond-Film („Casino Royale“) sein. Aber er kann ebenso fragil und verwundbar wirken. In „Die Jagd“ von Dogma-Regisseur Thomas Vinterberg spielt er einen Mann, der sich gerade erst von einigen Schicksalsschlägen erholt hat. Als Erzieher Lucas wird er mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung eines Mädchens konfrontiert. Die kleine Klara erzählt hässliche Dinge über ihn. Wir, die Zuschauer, wissen aber – und das ist der Suspense-Trick des Films –, dass in Wahrheit nichts geschehen ist. Und erleben fassungslos eine moderne Hexenjagd, der Lucas gerade als Sympathieträger wenig entgegen zu setzen hat. Was früher für ihn sprach, wird nun zum Vorwurf. Lucas verliert seinen Job, seinen Sohn darf er kaum noch sehen. Das Gerücht vom Missbrauch zieht seine Kreise, und bald wird für ihn schon ein Einkauf zum Spießrutenlauf. Dabei hat sich Lucas nur den vorsexuellen unklaren Avancen von Klara entzogen. Dafür will sie ihn strafen. Und eine ganze Community zieht mit, verschärft sogar die Vorwürfe, bei denen das Kind bald keine Rolle mehr spielt.
Natürlich sind die vielen Rollen, in denen Mads Mikkelsen zuvor schillernde Bösewichte spielte, in Hintergrund immer anwesend – zuletzt traute ihm der amerikanische Fernsehsender NBC sogar den kannibalistischen Serienmörder Hannibal Lector zu und vertraute ihm die Titelrolle in der Serie „Hannibal“ an. Manchmal ertappt man sich beim Ansehen von „Die Jagd“ dabei, wie man sich kurzzeitig in den Kreis der Verfolger und Verdächtiger einreihen möchte. An der Subtilität der falschen Fährten und gemeinen Verdächtigungen, an den Widersprüchen und dem Wandel der Sympathien und Solidaritäten haben der Darstellungsstil und die Persönlichkeit von Mads Mikkelsen gewiss einen großen Anteil.
„Die Jagd“ ist Mikkelsens künstlerischer Triumpf, für den er beim Festival in Cannes mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde. Acht Jahre lang war er als professioneller Tänzer tätig, bevor er sich entschloss, doch lieber Schauspieler zu werden. Mikkelsens frühe Karriere ist eng mit den Star-Regisseuren des neuen dänischen Films verbunden, etwa mit Nicolas Winding Refn (für den Mikkelsen in vier Filmen auftrat) oder mit Lone Scherfig und Susanne Bier, deren Beziehungsgeschichte „Open Hearts“ ihn 2002 einem internationalen Publikum bekannt machte. Als „Prince Denmark der Wandelbare“ wurde er fortan bezeichnet, weil er neben internationalen Großproduktionen wie „Casino Royale“ – in dem er James Bonds Gegenspieler LeChiffre spielte – weiterhin in Autorenfilmen auftrat, so zum Beispiel 2006 in den kleinen nachdenklichen Werken „Prag“ von Ole Christian Madsen und „Nach der Hochzeit“, Susanne Biers Familiendrama. Den Bond-Gegenspieler LeChiffre hatten in früheren Verfilmungen Orson Welles und Peter Lorre verkörpert – eine tolle Ahnenreihe. „Dänen lächeln nicht“, betitelte die SZ-Feuilleton-Autorin Rebecca Casati ihr Interview mit Mikkelsen im Jahr 2008. Es stimmt tatsächlich: Das Lächeln von Mads Mikkelsen ist dünn. Zähne zeigt er nie. Aber er hat eine ungeheure physische Präsenz, die mitunter an Sean Connery erinnert. Immer wieder verkörpert er Figuren, die uns anziehen, die wir aber auch ein bisschen fürchten könnten. Wie zuletzt in dem auf der „Berlinale“ 2013 gänzlich zu Unrecht untergegangenen Kintopp-Stück „The Necessary Death of Charlie Countryman“ von Frederik Bond, in dem Mikkelsen herrlich chargierend einen gefährlichen Mafia-Boss in Bukarest spielt. Manchmal liegt er bei seiner Rollenwahl auch mal völlig daneben, so beim Versuch eines Mystery-Thrillers durch den deutschen Filmregisseur Anno Saul „Die Tür“ (2009) oder bei den digitalen Action-Abenteuern der „Kampf der Titanen“-Serie. Gleichzeitig liebt Mikklesen engagierte Projekte wie „Tage des Zorns“ (2008), das den Widerstand gegen die Nazi-Kollaborateure in Dänemark zeigte, oder „Die Königin und der Leibarzt“ (2012), Nicolaj Arcels Kostümfilm um das „Revolutiönchen der Dänen“ unter dem Deutschen Leibarzt Johann Friedrich Struensee, der dem schwachsinnigen König Christian VII. die Prinzipien der Aufklärung einbläute, und das mehr als 30 Jahre vor der französischen Revolution. In „Die Königin und der Leibarzt“ kann man Mads Mikkelsen regelrecht ansehen, was für einen Spaß er an dieser „Revolution“ hat, die Vernünftiges (Abschaffung der Leibeigenschaft) mit Unvernünftigem (einem allgemeinen Kutschendienst für die Zecher, die nicht nach Hause finden) kombiniert. Die Königin verführt der „Sexiest Man Alive“ selbstredend auch. In der Gegenwart angekommen, wird Mikkelsen im Augenblick mit vielen Filmprojekten in Verbindung gebracht. Abgedreht ist Arnaud de Pallières Verfilmung von Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ an der Seite von Bruno Ganz. Ein Film, in dem Mikkelsen den letzten Gerechten gibt, der für die Gleichheit vor dem Gesetz alles opfert. Der deutsche Stoff, an dem Volker Schlöndorff schon einmal scheiterte. wird als deutsch-französische Co-Produktion beim diesjährigen Festival in Cannes erwartet: Mikkelsen hoch zu Pferd und strenger Mimik in einem Lehrstück über Zivilcourage. Das passt zu ihm eigentlich besser als sein Hannibal Lector im US-Fernsehen, so gut Mikkelsen die Rolle auch ausfüllt. Beim Europäischen Filmpreis wurde Mikkelsen so oft übersehen, dass die Stifter für ihn 2011 die Kategorie „Europäischer Beitrag zum Weltkino“ erfanden. Das ist Mikkelsen ohne Zweifel.
Josef Schnelle, FILMDIENST 2013/7
 
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Alle gegen einen
Das Sündenbock-Motiv und Thomas Vinterbergs „Die Jagd“

Lucas duckt sich im Wald unter einem Schuss hinweg. Der Schütze steht im Gegenlicht. Lucas ist geblendet, sieht nur einen Schatten, eine Silhouette, ein Nichts.
Die Hauptfigur von Thomas Vinterbergs Film „Die Jagd“ ist ein stiller Mann – eine Seele von Mensch. Lucas ist ein Lehrer, der jetzt im Kindergarten arbeitet, hingebungsvoll, mit viel Herz und Verständnis. Bis ein kleines Mädchen aufgeschnappte Sätze nachplappert, die von den Erwachsenen als sexueller Missbrauch gedeutet werden. Vinterberg nimmt dazu eine erzählerisch bemerkenswerte Haltung ein: Er stellt sich konträr zur öffentlichen Debatte über Kindsmissbrauch und Pädophilie und erzählt eine intensive Fabel vom zu Unrecht Beschuldigten – mit Bildern von Lynch-Mob und Außenseitern, die gänzlich anders sind als diejenigen, die das Kino weitgehend geprägt haben: Statt die Dynamik der Gewalt zu zelebrieren, schaut Vinterberg in Gesichter.
Ein frühes Vorbild dafür ist Fritz Langs Klassiker „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), der im Gegensatz zu Vinterbergs Film ein Werk des ästhetischen Exzesses ist. Peter Lorre spielt einen Kindsmörder, der einem Schauprozess vor der versammelten Gangsterwelt unterzogen wird. Sein Gesicht ist ein einziges Zittern, die Augenlider flattern mal hektisch und glotzen dann wieder wie fassungslos in die Welt, die Stimme bricht, dann schreit sie, schießt einzelne Wörter in die Katakombe wie Gewehrsalven. Dem Angeklagten gegenüber sitzt ein Pulk aus Ganoven, eine anonyme Masse eigentlich – doch den einen oder anderen hebt Fritz Lang in Großaufnahme hervor. Gesichter von der Straße, manche seltsam berührt, in Andeutung eines Nickens.
Von Lang bis Vinterberg ist das filmische Erzählen von Mob-Bildung und der Schaffung von Außenseitern eine Geschichte von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – und eine Geschichte von reaktionären Geschlechterrollen und zweifelhafter Ermächtigung. Rund 40 Jahre nach Fritz Lang beschrieben zwei gänzlich unterschiedliche Filmemacher, Sam Peckinpah und Peter Fleischmann, in ihren Filmen, wie in einer dörflichen Umgebung alle vermittelnden Instanzen in die unmittelbare körperliche, ungeteilte Gewalt der Einheimischen fallen. In Peckinpahs „Wer Gewalt sät“ (1971) flieht der amerikanische Mathematiker David Sumner vor den Studentenunruhen auf seinem Campus ins ländliche Cornwall, in den Heimatort seiner Frau Amy. Diese provoziert die Dorfbewohner durch ihre erotische Präsenz; Davids Intellektualität hingegen wird als Mangel an Männlichkeit interpretiert. Doch dann wird ihm das Gesetz der Gewalt halb aufgezwungen, halb scheint er sich diesem lustvoll zu unterwerfen, als er im Showdown sein Haus und einen flüchtigen, geistig behinderten Affektmörder vor der Dorfmeute verteidigt. Dustin Hoffman hält seine Figur stets in der Schwebe: Entsetzt schreckt er zurück, als sich ein Eindringling in den Fuß schießt, obwohl er sich an diesen doch zuvor mit der bemerkenswerten Ruhe und Präzision einer Tötungsmaschine herangeschlichen hatte.
Es gehört zu den Stärken des Films, dass er sich als Parabel auf die Gewaltneigung des Menschen ebenso wie als offene Fragestellung verstehen lässt. Wesentlich eindeutiger hatte Peter Fleischmann 1969 seine „Jagdszenen aus Niederbayern“ angelegt. In das Dorf Unholzing, wo Landshut schon als Großstadt gilt, platziert er exemplarische Außenseiterfiguren: ein „leichtes Mädchen“ etwa und ein Trio türkischer Gastarbeiter. Doch dass der 20-jährige Abram Männer liebt, provoziert das repressive Umfeld so sehr, dass nicht einmal seine Funktion als Dorfmechaniker ihn vor Häme und Ausgrenzung bewahrt. Martin Sperr, Autor der Bühnenvorlage, spielt diesen Abram mit großer Ruhe, beinahe schlafwandlerisch. Selbst der finale Mord ist hier kein Gewaltexzess, weil die Gewalt ohnehin schon die Grundlage dieser Dorfgemeinschaft ist. Je mehr der Mob im sexuell abweichenden Verhalten des Verstoßenen sich selbst erkennt (ganz im Sinne der klassischen Freudschen Projektion), desto gewaltförmiger will dieses Andere bekämpft werden.
Den allegorischen Aufbau, der vielen der genannten dramaturgischen Strukturen innewohnt, hat Lars von Trier in „Dogville“ (2003) radikal zu Ende gedacht. Die Häuser des titelgebenden amerikanischen Dorfs sind in einem bühnenhaften Aufbau nur Kreidestriche auf dem Boden. Alles ist hier sichtbar, das Private abgeschafft. Die – gerade auch sexuelle – Ausbeutung der jungen Grace, die sich vor einer Verbrecherbande ins Dorf geflüchtet hat, ist deutlich Ausdruck eines Machtgefüges. Und ganz im Sinne der ästhetischen Abstraktion, der sich von Trier verschrieben hat, ist der finale Massenmord weniger eine ekstatische Entgrenzung und Rachephantasie denn die Ausführung einer eiskalt imaginierten Notwendigkeit.
Thomas Vinterberg geht in „Die Jagd“ im Vergleich zum eher didaktisch-dramatischen „Dogville“ epischer vor: Er schaut in jeden Winkel der dänischen Kleinstadt, in jedes gesellschaftliche Ritual. Im Kindergarten, wo der von Mads Mikkelsen gespielte Lucas arbeitet, duzen alle einander. Wenn Lucas mit seinen Freunden zum Schießen in die Wälder geht, wird es zwar auch einmal etwas derber, aber gute Familienmenschen sind sie doch alle. Der falsche Vorwurf, Lucas habe ein Mädchen missbraucht, setzt eine Eskalation in Gang. Der Showdown ist allerdings kein Schuss- sondern ein Blickwechsel, an Weihnachten in der Kirche. Lucas, sozial längst völlig isoliert, duelliert sich über die Bänke hinweg mit seinem einst besten Freund, dessen Tochter das verheerende Gerücht in die Welt gesetzt hat. Die Augen glasig von Zorn, Verletzung und Alkohol, den Mund in zitternder Schieflage, halb offen, ständig im Begriff etwas zu sagen. Dann steht Lucas auf und stellt den Freund zur Rede. Den Effekt von Blut und Messern, das Knallen von Schüssen ersetzt Vinterberg durch die Intensität sozialer Interaktion. Gewiss: Der Mob als Manifestation kollektiver Ablehnung und Aggression – er ist auch in der heutigen Konsensgesellschaft nicht verschwunden. Aber ein Schuss, der Ausbruch beinahe tödlicher Gewalt gegen einen Ausgegrenzten, ist in Vinterbergs Film nur noch aus der Deckung der grellen Sonne heraus riskierbar, nicht mit dem Segen der Öffentlichkeit. So gesehen, ist „Die Jagd“ – gerade aufgrund seiner Schlussvolte – so optimistisch wie seit langem kein anderer Film mehr, der sich mit Rudelbildung und Ausgrenzung beschäftigt.
Tim Slagman, FILMDIENST 2013/7