Donnerstag, 14. September 2023 - 19:00
Jeder schreibt für sich allein: Der Autor Anatol Regnier hat 2022 ein Buch veröffentlicht, das das Leben und Wirken von Schriftsteller*innen in Nazideutschland betrachtet. In Zusammenarbeit mit Regnier adaptierte Dominik Graf das gleichnamige Buch und übersetzte es in einen knapp dreistündigen, vielstimmigen Essayfilm, der sich akribisch mit den widersprüchlichen Biografien von Hans Fallada, Gottfried Benn, Erich Kästner, Ina Seidel und Will Vesper auseinandersetzt. Was hielt kritische Autoren wie Kästner, dessen Bücher in Flammen aufgingen, davon ab, nach der Machtübernahme Hitlers zu emigrieren? Welche heute anerkannten Künstler sympathisierten damals mit den Nazis? Welche inneren und äußeren Widersprüche provozierte das Leben und Arbeiten unter dem Regime – auch für Institutionen wie die Akademie der Künste? Anhand von Interviews (u. a. mit dem Autor Florian Illies, der Kunstkritikerin und -historikerin Julia Voss und dem Filmproduzent Günter Rohrbach) und bis in die Gegenwart hinein diskutiert der Film die Frage nach dem Vertrauen in die Kunst und in Künstler – sowie in letzter Konsequenz das komplexe Verhältnis zwischen ästhetischen Positionen und politischem Handeln. (Woche der Kritik) ======================================== Worüber bislang nicht geschrieben wurde: Die Berlinale hat auch den neuen Film von Dominik Graf abgelehnt. Und das ist nichts Anderes als ein Skandal!! Dies nicht etwa, weil etwa Dominik Graf ein Anrecht hätte, mit jedem seiner Firma auf der Berlinale gezeigt zu werden – so etwas hat nur Christian Petzold – sondern weil dieser Film ein Stich ins Herz unserer derzeitigen deutschen Debatten und Probleme ist. Es ist ein historischer Film, ein Dokumentarfilm, er heißt Jeder schreibt für sich allein und basiert auf dem gleichnamigen Buch von Anatol Regnier. Es ist ein Film, der von Kompromissen und von Opportunismus, von moralischen Abgründen und Empathielosigkeit handelt, von Verhaltenslehren der Kälte und der Wärme, von Bücherverbrennungen und Arrangements. Es ist ein Film, der Linien zieht zu unseren eigenen Verhältnissen, zum Totalitarismus der Gegenwart – und zwar dem in den westlichen Demokratien – und zum Terrorismus der jüngeren Vergangenheit, von Willi Vesper zu Bernhard Vesper, dem Mann von Gudrun Ensslin, der Linien zieht von Gottfried Benn zu Günter Rohrbach, von Erich Kästner zu Dominik Graf selber, zu unseren Eltern und Großeltern und unserer eigenen Zukunft. Es ist ein großer Film, der schön und extrem schmerzhaft ist, jedenfalls für mich. Und nicht nur für mich, da bin ich sicher. Und der allein schon deswegen unbedingt verdient, dass ihn jeder sieht. Glücklicherweise kann man ihn sehen, nächste Woche. Nicht auf der Berlinale, aber während der Berlinale, parallel zu ihr in der »Woche der Kritik«. Gratulation an das Team um Dennis Vetter, dass sie diesen Film bekommen haben und dass sie ihn genommen haben. Und weil sie ihn genommen haben, bin ich sicher, dass auch ihre anderen Filme sich lohnen. Wir werden über den Film ausführlich berichten, aber nicht heute. Nur empfehlen wollen wir ihn schon jetzt. Jeder, der kann, sollte sich schleunigst Karten besorgen für eine der beiden Berliner Vorstellungen Schon am kommenden Montag ist Graf in Berlin zu Gast bei einer Runde in der Akademie der Künste. Um nichts Geringeres als das Wesen des Kinos soll es da gehen. Na dann… Der Titel »Content versus Film« schon sagt das Wichtigste: Film ist eben kein »Content«. (Rüdiger Suchsland)