Ein Sommer in New York - The Visitor
Eintritt: frei
USA 2007
108 Minuten
FSK: o.A.
Buch/Regie: Tom McCarthy
Darsteller: Richard Jenkins (Walter Vale), Hiam Abbas (Mouna), Haaz Sleiman (Tarek), Danai Gurira (Zainab), Marian Seldes (Barbara), Maggie Moore (Karen), Michael Cumpsty (Charles), Bill McHenry (Darin)
WIKIPEDIA, Deutschlandradio Kultur, Pressespiegel
Abschlussfilm des Festivals "Migration im Film".
Kurzkritik Filmdienst
Ein älterer Universitätsprofessor, der sich nach dem Tod seiner Frau von der Welt zurückgezogen und sich von Freunden und Kollegen abgeschottet hat, erlebt bei der unerwarteten Begegnung mit einem temperamentvollen syrischen Immigranten in New York ein schrittweises Erwachen seiner verschütteten Menschlichkeit. Eine hervorragend inszenierte und gespielte Charakterstudie, die durch den klugen Einbezug der politischen Situation nach dem Attentat vom 11. September 2001 zusätzliches Gewicht erhält. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
Langkritik Filmdienst
Zum zweiten Mal beschäftigt sich Tom McCarthy mit einem gesellschaftlichen Einzelgänger. War es in „Station Agent“ (fd 36 504) ein kleinwüchsiger Einsiedler, der ein stillgelegtes Bahndepot erbt, in dem er sich freiwillig von der Umwelt abschottet, so ist es in „The Visitor“ ein Universitätsprofessor, der nach dem Tod seiner Frau, einer Konzertpianistin, vom Leben nichts mehr wissen will und jeden Kontakt zu seinen Mitmenschen vermeidet. In beiden Filmen bedient sich McCarthy einer Figur ganz unterschiedlichen Temperaments, um die verkrustete Seele seiner Hauptperson aufzubrechen. Dabei geht er in „The Visitor“ einen entscheidenden Schritt weiter als in seinem früheren Film, indem er eine nach dem Attentat vom 11. September 2001 besonders aktuelle politische Komponente hinzufügt: Der junge Mann und dessen Freundin, denen gegenüber der verschlossene und abweisende Professor zum ersten Mal menschliche Regungen entwickelt, sind illegale Immigranten, die mit den amerikanischen Behörden in Konflikt geraten.
Der Ökonomieprofessor Walter Vale muss zu einem Vortrag nach New York City reisen. Er hat sich beharrlich gewehrt, die selbst geschaffene Isolation seines Hauses und seiner Heimatuniversität, an der er seit 20 Jahren immer wieder denselben Kurs abhält, zu verlassen. Als er in seine New Yorker Zweitwohnung kommt, die er seit dem Tod seiner Frau nicht mehr betreten hat, findet er dort einen jungen Syrer und dessen senegalesische Freundin vor, die die Wohnung von einem betrügerischen Makler gemietet haben. Die beiden Fremden packen widerstandslos ihre Sachen; doch als Walter gewahr wird, dass sie nun ohne Bleibe auf der Straße sitzen würden, holt er sie in einer plötzlichen Regung von Mitgefühl wieder zurück. Wie an vielen anderen entscheidenden Stellen der Story gelingt es dem Schauspieler Richard Jenkins, der für seine Leistung in diesem Film zu Recht 2009 für einen „Oscar“ nominiert wurde, durch kluges Unterspielen Walters Reaktion so in der Schwebe zu halten, dass sich weder ein Bruch in der Psychologie der Person noch eine leicht vorstellbare Sentimentalisierung vollzieht.
Tarek, der junge, temperamentvolle Syrer, ist ein Djembé-Trommler, der mit großer Kunstfertigkeit und Musikalität in Nachtclubs und an Straßenecken sein Instrument spielt. Es ist der Rhythmus dieser fremdartigen Musik, der Walter ein wenig weiter öffnet. Linkisch und schüchtern probiert er selbst das Instrument aus und begleitet Tarek zu dessen oft improvisierten Auftritten. Es ist an einem dieser Tage, dass Tarek in einer U-Bahn-Station zwei Beamten auffällt und aufgrund der hysterischen Verdächtigung aller Araber als Terroristen festgenommen wird. Die Integration der politischen Komponente ergibt sich nahtlos und wie zufällig. McCarthy bringt es scheinbar mühelos fertig, dass der zweite Handlungsstrang, der von diesem Augenblick an die Story beherrscht, keine Veränderung der Sichtweise und des Erzählduktus erzeugt, sondern sich auch dann noch, wenn sich Tarek und seine Freundin als illegale Immigranten entpuppen, aus Walters Perspektive entwickelt und auf die stufenweise Veränderung seines Verhaltens konzentriert bleibt.
„The Visitor“ ist einer jener stillen Filme, in denen jede Geste und jede noch so kleine Reaktion der Personen eine Bedeutung hat und in denen das Drama hinter der Beobachtung von Empfindungen und Gefühlen zurücktritt. So ergibt sich ganz allmählich ein vieldimensionales Porträt der Figuren, ihrer individuellen und ihrer allgemeinen Lebenslage. Oft kommt man beim Ansehen des Films an einen Punkt, wo man meint, genau zu wissen, wohin sich die Handlung bewegt. Doch McCarthy überrascht immer aufs Neue damit, wie seine feinfühlige Versenkung in die Personen alle Klischees und konventionellen Emotionen zu vermeiden versteht. Wie schon „Station Agent“ gelingt es auch diesem Film, aus einer Figur, die sich fundamental von allem unterscheidet, was heutiges Kinopublikum als attraktiv betrachtet, einen Handlungsträger zu formen, dem zunehmend Sympathie und Anteilnahme zuwachsen und dessen seelischen Verbarrikadierungen sowie deren schrittweiser Überwindung man mit wachsender Aufmerksamkeit zusieht. „The Visitor“ erweist sich als einer der seltenen Filme, die mehr am Menschen als an Ereignissen interessiert sind.
Franz Everschor Kritik aus film-dienst Nr. 1/2010