Wieder einmal verhandelt das französische Kino die Dinge des Lebens, und weil zum Leben auch der Tod gehört, steht am Anfang eine Beerdigung. Der Mann von Madeleine ist gestorben, und damit streben die Fliehkräfte in dieser Familie mit drei Generationen auseinander. Madeleine ist 85 Jahre alt, wie soll sie jetzt, einsam und allein, ihren Alltag bewältigen? Für ihren Sohn Michel, einen Postbeamten kurz vor der Pension, gibt es nur eine Lösung: Die greise Dame muss ins Altersheim. Doch das ist nicht seine einzige Sorge. Sein Sohn Romain studiert ziellos Literatur, wäre gerne ein Schriftsteller, arbeitet aber als Nachtportier in einer Pension. Zur Beerdigung seines Opas kommt er zu spät, weil er den falschen Friedhof ansteuerte. Eine emblematische Szene: Romain ist ganz schön durcheinander und entscheidungsscheu – sehr zum Unwillen von Michel, der ein ums andere Mal die Fassung verliert. Das plötzliche Rentnerdasein hatte er sich anders vorgestellt; etwas fehlt in seinem Leben, und dieser Mangel führt zu unerträglichem Selbstmitleid und traurigen Erkenntnissen: So hat er sich beispielsweise viel zu sehr von seiner Frau Nathalie entfernt, die plötzlich mit Scheidung droht. Doch dann büxt Madeleine aus dem Altersheim aus, in dem es ihr wegen des schlechten Essens und der verzagten Senioren überhaupt nicht gefällt. Zum Glück führt eine Ansichtskarte Romain auf ihre Spur.
Nach einem Roman von David Foenkinos, der schon die Vorlage zu „Nathalie küsst“ lieferte und mit seinem Bruder Stéphane selbst verfilmte, inszenierte Jean-Paul Rouve eine leise Komödie, die trotz der anklingenden Themen – Alter, Einsamkeit, Tod, Zukunftsangst, Rentnerdasein und einer damit einhergehenden Sinnkrise – positiv auf das Leben schaut. Wenn jung und alt zusammenhalten, gegenseitiges Verständnis aufbringen und sich umeinander kümmern, wird es schon klappen, so die freundliche, unspektakuläre, aber auch selbstironisch präsentierte Botschaft, die so etwas wie einen unangestrengten Generationenvertrag einklagt. Das Interesse des Regisseurs gilt dabei eindeutig Romain, der sich vor den vielen Möglichkeiten fürchtet, die ihm das Leben bietet, und sich deshalb zunächst verweigert. Dennoch hat er von allen den besten Draht zur Großmutter, weil er ihre Lebenserfahrung und Altersweisheit schätzt; beide sind durch eine Art Komplizenschaft verbunden, die das Zentrum des Films bildet.
„Les Souvenirs“ heißt der Film im Original. Es geht also auch um die Erinnerung, um den Rückblick auf gelebtes Leben, um die Suche nach der verlorenen Zeit. Und so führt der Weg der Figuren – ohne dass der Film erzählerisch einen Bruch erleidet – von Paris in die Normandie, ans Meer, an den Geburtsort von Madeleine, dort, wo für sie alles begann. Ihr Lebenskreis schließt sich hier gewissermaßen, und so endet der Film, wie er begonnen hat: mit einer Beerdigung.
Die leise Melancholie fängt Rouve gelegentlich durch kleine, komische Abstecher ins Absurde auf. So fungiert ein Tankwart als griechisches Orakel, das seinen entscheidungsschwachen Kunden – darunter Michel – mit lebensklugem Rat zur Seite steht und so zum Handeln verleitet. Einmal besuchen Romain und seine Großmutter jenen Maler, dessen naive, seltsame und darum keiner Wirklichkeit zuzuordnenden Bilder im Altersheim hängen. Köstlich auch Romains Stippvisite in der Touristeninformation von Etretat, wo ihn eine hübsche Angestellte schnippisch über die Anziehungskraft des Küstenorts auf Selbstmörder informiert. Sonne, Strand und Meer – manchmal ist Schönheit eben schwer zu ertragen.
Michael Ranze, FILMDIENST 2015/6