Sonnabend, 04. März 2017 - 16:00 bis - 17:00
Liebes Publikum,
liebe Eltern, liebe Lehrer,
der Stop-Motion-Puppenfilm "Mein Leben als Zucchini" (66 Minuten) ist ein wundervoller Film für Jung (ab 8) und Alt (bis 99) - eigentlich ein Familienfilm. "Zucchini" ist ein Film, in dem man die Kinder mitnehmen muss. Als Zielgruppe werden Kinder nicht massiv beworben - kein "Ice Age der x-te" oder so, wo sie das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben, nicht mitreden zu können, wenn sie ihn nicht gesehen haben. Filme, die Kinder ernstnehmen und nicht als Marketingobjekt sehen, haben es immer schwer an der Kinokasse. Drei Termine bieten wir an. Extra Schulveranstaltungen sind möglich.
Eintritt: frei €
MA VIE DE COURGETTE
Schweiz 2016
Kinostart: 16. Februar 2017
66 Minuten
FSK: ab 0; f
FBW: Prädikat besonders wertvoll
Regie: Claude Barras
Drehbuch: Céline Sciamma (Regie: Bande de filles)
Vorlage: Gilles Paris (Roman "Autobiografie einer Pflaume")
Kamera: David Toutevoix
Musik: Sophie Hunger
Schnitt: Valentin Rotelli
Auszeichnungen (unter vielen anderen):
Claude Barras, Europäischer Filmpreis 2016, Bester Animationsfilm
Frankfurt am Main, Frankfurter Buchmesse, Preis für Beste Literaturverfilmung Kinder- und Jugendfilm 2016
Paris, L'Académie des Lumières, Bester Animationsfilm 2017, Bestes Drehbuch 2017
Satellite Awards der International Press Academy (IPA): Bester Animationsfilm
Paris, Académie des Arts et Techniques du Cinéma, César für den besten Animationsfilm (Spielfilm) 2017 (Nominierung), César für die beste Adaption 2017 (Nominierung), César für die beste Filmmusik 2017 (Nominierung)
Wien, Kinderfilmfestival/Institut Pitanga, Preis der Kinderjury 2016
Zürich, Zürich Film Festival, Preis der Kinderjury für Besten Kinderfilm 2016
24 Bilder, Scope
Filmhomepage, Wikipedia, EPD-Film, Programmkino.de
Schulkino: Film des Monats, Unterrichtsmaterial
Kritik von Andreas Platthaus in der FAZ
Kritik von Jenni Zylka auf Spiegel Online
Kritik von Anke Sterneborg in der Süddeutschen Zeitung
Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film" ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.
Kurzkritik Filmdienst
Nach dem Unfalltod seiner alkoholkranken Mutter landet ein neunjähriger Junge im Kinderheim, wo er sich mit anderen Kindern anfreundet, die ebenfalls Vernachlässigung und Missbrauch erfahren haben. Solidarisch bemühen sie sich darum, ein neu hinzugekommenes Mädchen vor ihrer egoistischen Tante zu schützen. Der bemerkenswert zurückhaltend inszenierte Stop-Motion-Animationsfilm erzählt ebenso berührend wie angemessen optimistisch von traumatisierten Kindern, wobei die Handlung durchgängig auf Augenhöhe seiner jungen Protagonisten bleibt. Die Inszenierung lässt Poesie, Realismus und Fiktion mustergültig ineinanderfließen und schafft so für ein breites Publikum Zugänge zu einem schwierigen Thema.
Sehenswert ab 10.
Stefan Stiletto, FILMDIENST 2017/4
Trailer (81 Sekunden):
SOPHIE HUNGER und CLAUDE BARRAS über ihren Film beim Zürich Film Festival (145 Sekunden):
ausführliche Kritik Filmdienst
Sie habe gutes Kartoffelpüree gekocht, sagt Icare über seine Mutter. Und manchmal habe sie mit ihm auch gelacht. Außerdem gefällt ihm der Spitzname, den sie ihm gab: Zucchini. Doch nun ist sie tot. Gestorben bei einem Unfall, für den sich der Neunjährige verantwortlich fühlt. Als er zu laut mit den leeren Bierdosen seiner alkoholkranken Mutter spielte und sie ihn bestrafen wollte, stürzte sie die Treppe hinab. Da der Vater die Familie schon vor einiger Zeit verlassen hat, muss Zucchini in ein Kinderheim. Dort stammen die anderen Kinder größtenteils auch aus Familien, die alles andere als „heil“ sind.
Auf den ersten Blick sehen die Figuren mit ihren überdimensionalen Köpfen, den großen Augen und den dünnen langen Armen niedlich aus. Aber so künstlich und betont unrealistisch sie auch gestaltet sind, so menschlich und berührend ist das, was der Stop-Motion-Animationsfilm nach und nach über sie preisgibt. In ihren traurigen Augen spiegeln sich ihre traumatischen Erlebnisse. Wenn ein Mädchen einem anderen liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, dann ist beiläufig eine lange Narbe zu erkennen, die andeutet, was dieses Mädchen erlitten haben muss. Noch tiefer als die äußerlichen Verletzungen sind ohnehin die seelischen.
Es sind heftige Themen, die „Mein Leben als Zucchini“ aufgreift: Alkoholismus und Drogen im Elternhaus, häusliche Gewalt, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch. Alle Kinder sind gezeichnet. Nicht, weil sie etwas angestellt hätten, sondern weil sie Erwachsenen ausgeliefert waren, die sie nicht schützten und im schlimmsten Falle sogar misshandelten. Sie alle sehnen sich nach Liebe. Und glauben doch nicht mehr daran, dass es jemanden gibt, der sie lieben könnte. Dass man sich auf seine Eltern verlassen kann, haben die Kinder schon lange als Illusion erkannt.
Dennoch erzählt der Film auch von Hoffnung. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erweist sich der ruppige Anführer im Kinderheim, der seine Coolness als Schutzschild vor sich herträgt, als sensibel und verlässlich. Als Camille auftaucht, deren Vater erst ihre Mutter und dann sich selbst vor den Augen der Tochter getötet hat, kommt etwas Neues ins Spiel. Zucchini verliebt sich in das forsche Mädchen und weiß, dass er ihm helfen muss. Denn zu ihrer Tante, die sie schlecht behandelt und es überdies nur auf das Pflegegeld abgesehen hat, möchte Camille auf keinen Fall zurück. So ist es die Rettung von Camille, die die Kinder zusammenschweißt.
Céline Sciamma hat den Roman „Autobiographie d’une courgette“ von Gilles Paris adaptiert und stellt mit ihrem Drehbuch einmal mehr unter Beweis, wie gut sie sich in zerrissene Kinderseelen einfühlen kann. Wie in ihrer eigenen Regiearbeit „Tomboy“ über ein Mädchen, das eigentlich ein Junge sein will, bewegt sie sich hier ganz auf Augenhöhe der Kinder und behandelt die kindlichen Figuren mit größtmöglichem Ernst. Auch Regisseur Claude Barras trifft in seinem Langfilmdebüt mit den skurril-originellen Figuren und seiner zurückhaltenden Inszenierung den richtigen Ton, um nach dem Echten im Künstlichen zu suchen und die Miniaturwelt in kleinen poetischen Momenten immer wieder zum Leuchten zu bringen.
So lässt Zucchini einen Flugdrachen steigen, auf den er mit einfachen Strichen seinen Vater als Superheld gezeichnet hat. Oder er hütet eine leere Bierdose als Erinnerung an seine Mutter wie einen wertvollen Schatz. In diesen einfachen, ebenso komischen wie zutiefst tragischen Bildern versteckt der Film seine großen Themen – und eröffnet damit für Kinder wie Erwachsene leichte Zugänge.
Das ist das große Kunststück des Films: Er lässt auch jüngere Zuschauer erahnen, was die Kinder im Film erlebt haben, ohne alles auszusprechen und zu erklären, und er spricht Themen aus ihrem Alltag an, etwa die Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe oder die Akzeptanz durch die Eltern. Zugleich aber lehnt er sich auch aus dem Fenster und wirft vorurteilsfreie Blicke auf gescheiterte Familien. Den Status als Ideal hat die leibliche Kernfamilie längst eingebüßt. Das Glück und die echte Zuneigung finden sich hier vor allem in selbst gewählten Familienformen.
Stefan Stiletto, FILMDIENST 2017/4