The Zone of Interest

The Zone of Interest
  Zur Online Version dieses Newsletters  
 
 
   
 
 
Logo

Newsletter

 
     
     

Liebes Publikum,
die Oscars 2024 verliefen in allen Kategorien erwartungsgemäß.

Die einzige Überraschung gab es im Vorfeld, dass Frankreich "Geliebte Köchin" anstelle "Anatomie eines Falls" ins Oscarrennen schickte."Anatomie" erhielt erwartungsgemäß den Oscar in der Kategorie "Bestes Originaldrehbuch".
 
"Oppenheimer" räumte mit sieben Oscars ab.
Auf Platz zwei "Poor Things" (vier Oscars), der erwartungsgemäß in den drei Ausstattungskategorien gewann sowie mit Emma Stone, die ebenfalls erwartungsgemäß den Oscar für die "Beste Hauptdarstellerin" vor Sandra Hüller gewann.
Da die Auguren dies bereits "von den Dächern pfiffen", hatten wir vor kurzem "Poor Things" auf dieses Wochenende platziert und "Geliebte Köchin" eine Woche nach hinten verschoben.

Wir hatten wie immer den Donnerstag freigelassen für den
Oscar-Gewinner.
Ich habe alle Filme von Christoper Nolan gesehen (TV-Tipp: Sonntag lief übrigens "Insomnia" auf arte. Den hatte ich 2002 gesehen und weist meiner Erinnerung nach fast schon shakespearsche Dimensionen auf.)
Oppenheimer ist filmisch klasse. In meinen Augen ist er leider eine US-amerikanische Geschichtsklitterung.
Jedenfalls läuft bei uns am Donnerstag nicht "Oppenheimer", sondern "The Zone of Interest", der ja den Oscar für den besten nicht US-amerikanischen Film gewonnen hat.

Dieser Film liegt uns allen sehr am Herzen. Aber sprechen kann ich nur für mich.
In der 7./8. Klasse lag auf meiner Bank (es gab noch Lernmittelfreiheit) ein blaues, dünnes Geschichtsbuch von Klett. Ich blätterte in der Pause drin und stieß auf ein Foto, das einen ungeheuren Leichenberg von völlig ausgemergelten Leichnamen zeigte. Das Erste, was ich dachte, war: "Dazu sind wir Menschen also fähig."
Diese Erkenntnis hat mich mein ganzes Leben begleitet. Vielleicht nicht Monat für Monat, aber Jahr für Jahr sicherlich und die letzten Jahre wöchentlich. Der Holocaust und die anderen Verbrechen an der Menschlichkeit im WK II, wie, dass über die Hälfte von 5,7 Millionen Kriegsgefangenen der Roten Armee in deutscher Kriegsgefangenschaft elendig verhungert oder anderweitig ums Leben gebracht worden sind und die Atombomben auf Japan. All das macht mich in seinen zahlreichen Facetten immer und immer wieder fassungslos.

Wie Menschen zu Tätern werden, gilt als hinlänglich erforscht. Ein wichtiger Beitrag hierzu ist in meinen Augen der Begriff des "Referenzrahmens" in der Begrifflichkeit von Harald Welzer.
Wir hatten 2009 den Film "Das weiße Band" gezeigt und dachten, dort die Genese der Tätergeneration gezeigt bekommen zu haben. Aber ich denke, wenn der gesellschaftliche Referenzrahmen verschoben wird, dann werden viele zu Tätern, die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen dagegen vollständig immun waren.

Und wenn ich sehe, wie rasant der Referenzahmen die letzten Jahre verschoben worden ist – Dinge möglich sind, die ich vor Jahren noch für unmöglich hielt und wie schnell man mittlerweile dabei ist, andere zu stigmatisieren und auszugrenzen, dann wird mir angst und bange. Ausgrenzung war für mich immer der Anfang allen Übels. Im Kino achteinhalb gibt es seit Jahren eine Filmreihe gegen Ausgrenzung.

Kino achteinhalb gibt es seit 29 Jahren und wir haben Jahr für Jahr über die Gräueltaten der NS-Jahre im Kino erinnert. Unsere jetzige Internetseite gibt es seit zehn Jahren. Das ist die Liste unserer Veranstaltungen, die wir in dieser Zeit zu dem Thema gemacht haben. Die meisten davon ohne Eintritt. Früher haben wir mehr gemacht, aber viele sind des Themas müde oder glauben irrigerweise, man wolle sie belehren oder ihnen ein Gefühl von Schuld vermitteln. So dass wir das Jahr für Jahr vor immer weniger Publikum veranstalten.

"The Zone of Interest" hat in den ersten zehn Tagen bundesweit 248.619 Besucher gehabt. Das ist eine unglaubliche Zahl.
Die meisten werden die Besucherzahlen von Kinofilmen nicht kennen, aber die sind seit 2020 im Arthouse-Bereich dramatisch schlecht und die meisten Filme, die wir zeigen, erreichen bei weitem nie die 100.000er-Grenze. Ich habe mit dem Verleih telefoniert. Die sind hin- und weg und alle freuen sich. Wir haben zehn Termine von denen neun "ausverkauft" sind. Ausverkauft in Gänsefüßchen, weil wir wie alle Veranstalter wie auch die Gastronomie mit dem neumodischen "No-show" konfrontiert sind und dann oft Plätze freibleiben, die andere gerne gehabt hätten. Wir werden übrigens nicht von Steuergeldern finanziert (verständlicherweise glauben das nicht wenige), sondern wir finanzieren uns durch Eintritt und Mitgliedsbeiträge. 2000 Euro wurden uns von einer Gönnerin in den 29 Jahren gespendet. (Wir kommen aber gut über die Runden, solange jeder von unserem Publikum ein- bis zweimal im Quartal ins achteinhalb geht.) Alles, was man im achteinhalb sieht, angefangen vom Fußboden, Türen, Fenster, Toiletten bis hin zu den Heizkörpern, haben wir in Eigenregie auf die Beine gestellt. Die ersten fünf Jahre haben wir rote Zahlen geschrieben, mittlerweile sind wir stabil – solange uns das Publikum treu bleibt.

Ich möchte auf Fragen eingehen, die seitens des Publikums nach dem Film kamen:
Der Filmtitel ist die englische Übersetzung von "Interessengebiet", was die ca. 40 Quadratkilometer große Zone um das KZ Auschwitz bezeichnet.
Der gleichnamige Roman des 2023 verstorbenen britischen Schriftstellers Martin Amis bildet die Vorlage für das Drehbuch.
 
Im Film gibt es eine irritierende Szene, die mit einer Wärmebildkamera aufgenommen worden ist. Zu der äußert sich Regisseur Jonathan Glazer wie folgt: "Für mich ist sie eine Art von Energie. Das Mädchen basiert auf einer wahren Person. Eine Polin, die ich kennengelernt habe, als sie 90 Jahre alt war. Es ist ihre Geschichte. Sie wuchs in Auschwitz auf und fuhr nachts heimlich mit dem Fahrrad durch die Umgebung und legte für Häftlinge Äpfel und Birnen aus. Sie starb ein paar Wochen, nachdem sie mir ihre Geschichte erzählt hatte. Ihr Erzählstrang symbolisiert die andere Seite von uns. Selbst in diesen Zeiten gab es gute Menschen."

Über Täter und Opfer ist viel gesagt worden. Wir haben aber auch Filme gezeigt, in denen Menschen sich nicht nur nicht an Stigmatisierung, Denunziation und Ausgrenzung beteiligt haben, sondern sogar Verfolgte geschützt und versteckt haben. Oft spontan, ohne vor darüber nachgedacht zu haben. Diese Menschen kommen aus allen Schichten, ein gemeinsames Merkmal ist auf den ersten Blick nicht zu finden. M. W. ist es unerforscht, warum Menschen Haltung an den Tag legen, nicht mitmachen, helfen und sich dabei der Gefahr aussetzen. Ich weiß nur, ohne diese Menschen hätte alles keinen Sinn.

Zur Spielweise von Sandra Hüller:
Sandra Hüller spielt ihre Figuren aus meiner Sicht mit einen tiefen Emotionalität, die sie aber unter der Oberfläche hält.
Hier verzichtet sie aber auf diese Darstellungweise. Sandra Hüller sagt dazu: "Ich habe die Psychologisierung ausgelassen. Mich eben nicht gefragt, warum macht sie das? Sie macht es halt einfach. Sie fragt sich ja auch nicht, warum sie es macht oder wie sie empfindet. Wenn sie es täte, würde sie ja merken, wo sie ist und was sie tut. Und ich habe mich ihr hauptsächlich über den Körper genähert. Ich habe an Frauen gedacht, die viele Kinder bekommen haben, an Leute, die auf dem Feld arbeiten, habe Menschen beobachtet, die viel im Garten arbeiten. Die Hößes waren ja auch mal Bauern. Bestimmte Arten von Körperlichkeit kenne ich aus meiner Familie. Und eine gewisse Ruppigkeit, eine Form von praktischer Tätigkeit, der man nachgeht, damit man etwas anderes nicht fühlen, denken, sagen muss. All so etwas war für die Annäherung an die Figur wichtig. Mal abgesehen von der unsichtbaren, für sie unfühlbaren Schuld, die auf ihren Schultern sitzt."
Glaser sagt zu Hüllers Spielweise: "Sie hat es ganz bewusst ohne Empathie getan. Sie wollte sich dieser Figur nicht nahe fühlen, und das ist anders, als sie sonst arbeitet. Von Hannah Arendt stammt der Satz: „Alles Denken verlangt ein Innehalten.“ In Sandras Performance gibt es kein Innehalten. Sie bewegt sich unaufhörlich in dieser Rolle, immer tut sie etwas, hält sich auf diese Weise das Denken vom Leib."
 
Worum es m. E. in diesem Film geht (und deswegen berührt er mich wahrscheinlich auch so), führt mich zu meinem Ausgangssatz aus der 7./8. Klasse zurück."Dazu sind wir Menschen also fähig." Es geht in dem Film m. E. primär nicht um Opfer und Täter, sondern um uns. Ein Interessensgebiet ist für mich, das, was mit einem selbst ist und weniger die zahlreichen von uns wegweisenden Fremdzuschreibungen. Dass die Täter sich viel weniger von uns unterscheiden, als uns lieb ist. Und ich glaube, dass nicht wenige von uns, wenn sich nur der Referenzrahmen entsprechend verschiebt, zu Tätern werden könnten.
Hierzu Jonathan Glazer:
Üblicherweise erzählen Filme von den Opfern. Wir sollen uns mit ihnen identifizieren, und das ist auch wichtig. Aber wir sollten auch die Täter im Blick haben, sonst machen wir es uns zu leicht. Man vermeidet das gerne, wohl aus Angst, was wir entdecken könnten. Wir fürchten uns davor, in den Tätern ganz normale Menschen zu sehen. Menschen wie uns. Aber das waren sie. Und genau das ist das Monströse. Dass ganz normale Menschen zu so etwas fähig sind. Wir lullen uns gerne damit ein, dass wir damit nichts zu tun haben. Wir dämonisieren die Täter als böse, als Monster, und halten sie uns so vom Leib. Es ist eine schwierige Erkenntnis, dass ganz normale Leute zu den grausamsten Dingen fähig sein können. ... Ich teile Claude Lanzmanns Standpunkt, dass dieser Horror nicht dargestellt werden kann. Ich glaube aber nicht, dass wir den Holocaust als etwas Monolithisches, Unantastbares betrachten sollten, über das man nicht sprechen kann. Ich glaube, wir müssen darüber reden und uns der Tatsache stellen, dass so etwas wieder geschehen kann, da wir als Menschen zu solchen Verbrechen fähig sind. Man muss daher versuchen, etwas über das Wesen des Menschen zu verstehen. Wir haben wirklich alles gelesen, was sich in Archiven über sie fand, jede Zeugenaussage, jede Erwähnung. Das Erschütternde war, wie grotesk normal diese Leute waren. Sie waren spießig auf eine moderne Weise, strebten nach denselben Sachen wie wir heute. Ein Haus mit Garten, ein Mann, der Karriere macht, schicke Klamotten. … Die Dissoziation (In einem dissoziativen Zustand ist unsere Wahrnehmung, Denken, Handeln und Fühlen getrennt.) von den Verbrechen, die sie begehen, ist schwindelerregend. ... Distanz war ganz elementar. Man soll sich nicht einfühlen, sondern sich selbst auf die Figuren projizieren, sich selbst in ihnen sehen. Sich wiedererkennen in ihrer banalen Normalität. Der Film fordert dazu auf, sich selbst gegenüber wachsam zu sein. Wir haben es in uns, uns für die falsche Seite zu entscheiden."

Für diesen Donnerstag gibt es noch eine Handvoll Karten und für nächsten Donnerstag ist taufrisch eine weitere Vorführung terminiert.
 
Das erste Mal in 29 Jahren in einer privaten Sache: Ich werde von privater Hand in betrügerischer Absicht eines Verkehrsdelikts bezichtigt. Falls dies ein/eine sachkundige RA liest, ich benötige da Beratung.


Herzliche Grüße
Stefan Eichardt
www.kino-achteinhalb.de

  Klicken Sie bitte hier, wenn Sie diese E-Mail in Zukunft nicht mehr empfangen möchten.