Henri Voizot ist aufs Alleinleben optimal eingestellt. Seinen Tagesablauf hat der pensionierte Steuerprüfer bis ins Kleinste mit Ritualen strukturiert, die er stoisch und ohne Variation durchzieht. Henri könnte zufrieden sein, wenn er diesen Zustand überhaupt kennen würde. Doch der bald 80-jährige Witwer hat zeitlebens Griesgrämigkeit und Verachtung für seine Mitmenschen kultiviert und so seine Isolation aktiv vorangetrieben. Der Wunsch, von allen in Ruhe gelassen zu werden, kollidiert inzwischen aber mit seinem zunehmenden Alter und seiner nachlassenden Gesundheit. Sein Sohn Paul findet, dass der greise Vater nicht weiter allein in der ausladenden Wohnung leben kann. Deshalb soll ein Zimmer untervermietet und ein Aufpasser für den alten Herrn besorgt werden. Widerwillig stimmt Henri zu, tut aber alles, um potenzielle Mitbewohner zu vergraulen. Mit der jungen Constance hat er allerdings nicht gerechnet. Die Studentin ist nicht auf den Mund gefallen und nimmt die Miesmacherei des Alten nicht ernst. Sie muss bei ihren Eltern unbedingt raus, und angesichts der Wohnungsknappheit in Paris hat das Zimmer bei Monsieur Henri zumindest einen Vorzug: Es ist verfügbar. Die Wohngemeinschaft wider Willen kann beginnen.
Der französische Regisseur Ivan Calbérac geht in seinem vierten Spielfilm mit dem allgemeinen Wohnungsnotstand von einem sehr realen Problem aus und zeigt mit der Zwei-Generationen-WG eine durchaus nachvollziehbare Lösung auf. Damit aber ist der Realismus-Anteil allerdings auch schon erschöpft. Nachdem Henri und Constance unter einem Dach leben, folgt die Inszenierung den etablierten Vorgaben von WG-Film-Klassikern wie „Ein seltsames Paar“. Die unterschiedlichen Temperamente rasseln aneinander, Henri rebelliert gegen den Eindringling und Constance gegen seine Vorschriften.
Dass diese Konstellation bei aller Vertrautheit komische Funken schlägt, liegt vor allem an den reizvollen Darstellern. Der französische Altstar Claude Brasseur stürzt sich mit ungebrochener Spiellust in die Rolle des abweisenden Querulanten, der seine Umgebung mit Reibeisenstimme und süffisanten Beleidigungen quält, hinter denen bald Ängste und verdeckte Gefühle erkennbar werden. Die Schweizer Filmdebütantin Noémie Schmidt schlägt sich daneben erstaunlich sicher und findet für Constance eine gelungene Mischung aus Schlagfertigkeit und tiefer Verunsicherung angesichts ständiger Rückschläge im Leben. Wie Brasseur schafft auch sie es, ihrer Figur weit mehr Tiefe zu verleihen, als das Drehbuch ihnen eigentlich zugesteht.
Doch mit dem Zwist der Hauptfiguren allein lässt sich der Film nicht füllen. Beim Versuch, die Handlung voranzutreiben, verbiegt sich Calbérac allerdings ziemlich. So verfällt Henri auf die Idee, seinen scheinbar ungeliebten Sohn und dessen von ihm verachtete Frau zu entzweien. Constance soll zu diesem Zweck einen Flirt mit Paul beginnen. Da sie finanziell notorisch klamm ist und den Rauswurf aus der Wohnung fürchtet, willigt sie nach kurzem Zögern ein. Ihre Bereitschaft, für Geld und Wohnrecht ihren Körper als Pfand einzusetzen, nötigt dem Film aber ein moralisches Dilemma auf, das er nicht auflösen kann. Da es Calbérac jedoch nicht um ein provokatives Statement geht, erscheint dieser Akt sexueller Nötigung seltsam konstruiert und verharmlost, selbst wenn man nie zu fürchten braucht, dass Constance bis zum Äußersten gehen würde.
Dass man dem absurden Verführungsplan trotzdem mit Interesse folgt, liegt einmal mehr an den Darstellern: Zu Brasseur und Schmidt gesellt sich Guillaume de Tonquédec, der ähnlich wie in „Der Vorname“ das köstliche Porträt eines biederen Langweilers zeichnet, der durch Constances vorgetäuschte Aufmerksamkeit bald zum Biedermann in der Lederjacke mutiert. Das Ziel, auf das der Film zusteuert, heißt freilich nicht Ehebruch, sondern Aufbruch. Zusehends hagelt es Ratschläge à la „Lebe deine Träume, bevor es zu spät ist“, die selbstredend auch befolgt werden. Damit plädiert Calbérac erheblich unsubtiler für Selbstverwirklichung, als es nötig wäre: Monsieur Henri hätte als abschreckendes Beispiel für das lebenslange Zurückstellen von Träumen vollkommen ausgereicht.
Marius Nobach, FILMDIENST 2016/15