Deportation Class

  Dienstag, 05. Dezember 2017 - 19:30 bis - 21:15

In Kooperation mit  "Land in Sicht - Transition / Celle" (LIST).

Eintritt: frei

Deutschland 2016
Kinostart: 1. Juni 2017
85 Minuten
FSK: ab 12; f
FBW: Prädikat besonders wertvoll


Produktion/Regie/Drehbuch: Carsten Rau, Hauke Wendler
Kamera: Boris Mahlau
Musik: Sabine Worthmann
Schnitt: Sigrid Sveistrup

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.
Kurzkritik Filmdienst
Überzeugender Dokumentarfilm über zwei albanische Familien, die 2016 zwangsweise nach Albanien abgeschoben wurden. Er beschreibt die staatlich organisierte Sammelabschiebung inklusive Vorbereitung und Durchführung und besucht schließlich die Abgeschobenen in Albanien. Obwohl alle beteiligten Seiten zu Wort kommen und die unterschiedlichen Ansichten relativ sachlich nebeneinandergestellt werden, tritt die Unmenschlichkeit der Abschiebepraxis deutlich zu Tage. Eine fundierte, ebenso nüchterne wie aufwühlende Kritik am deutschen Asylrecht und seiner Abschiebepraxis.
Sehenswert ab 14.  ****
Julia Teichmann, FILMDIENST 2017/11

Filmhomepage, Programmkino.de, alle Daten zum Film auf Filmportal.de 

Trailer (165 Sekunden):

   

ausführliche Kritik Filmdienst
„Sammelchartermaßnahme“, lautet der behördliche Terminus. Vom Flughafen Rostock-Laage aus sollen 200 Asylbewerber in einer konzertierten Aktion nach Albanien ausgeflogen werden. Die Dokumentaristen Carsten Rau und Hauke Wendler begleiten die Umsetzung der Maßnahme. Der Titel ihres Films „Deportation Class“ geht auf die gleichnamige Kampagne des Netzwerks „Kein Mensch ist illegal“ aus dem Jahr 1999 zurück. Die Haltung der Filmemacher ist damit von Beginn an klar. Das zeigt sich auch in der Entscheidung, den Menschen, die abgeschoben werden, von Anfang an ein Gesicht zu geben. Zunächst in schwarz-weißen Nahaufnahmen, anfangs nur mit den Augen, die in die Kamera blicken, dann in Porträts. Die Botschaft ist klar: Hier geht es um Menschen. Nicht um Zahlen.


Gehört und beobachtet werden alle Beteiligten, in zwei Exkursen auch sekundär Betroffene, in einem Fall die Anwältin einer Familie, die abgeschoben wird, sowie der Deutschlehrer ihrer beiden Kinder. „Deportation Class“ ist chronologisch strukturiert; parallel stattfindende Ereignisse werden nacheinander montiert. Aus dramaturgischen Gründen blendet die Inszenierung gelegentlich vor- und zurück. So beginnt der Film mit der Abholung einer Familie aus ihrer Wohnung. Dann wird auf die beteiligten Ordnungskräfte zurückgeschnitten, etwa auf den „Leiter Rückführungsmanagement“, der das geplante Vorgehen erläutert; es werden auch Sitzungen mit der Polizei beobachtet. Anschließend geht das Filmteam mit den Ordnungskräften in die Wohnung. Es ist mitten in der Nacht, die Räume sind voller Polizisten, die aber keinen Dolmetscher mit dabei haben; kurzerhand wird auf die Übersetzerin des Filmteams zurückgegriffen.

Auch der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), ist mit von der Partie; offenbar betrachtet er die Aktion und insbesondere die Anwesenheit eines Filmteams als willkommene PR im Wahlkampf 2016, in dem hartes Durchgreifen demonstriert werden soll, um der AfD das Wasser abzugraben. Mantrahaft wiederholt Caffier gegenüber den Filmemachern, aber auch gegenüber den Menschen, die abgeschoben werden, dass hier nur geltendes Recht umgesetzt wird. Die Terminologie der Abschiebeverwaltung lässt einem den Schauer über den Rücken laufen. So heißt es am Flughafen, dass man „die Zahlen ordnungsgemäß angeliefert bekommen“ habe; der Einsatzleiter Stralsund sagt: „Das ist unser Dienst, dafür sind wir eingeteilt, das nehmen wir emotionslos hin. Wir werden, können und dürfen hier keine Emotionen zeigen.“

Die Anwältin der Familie, die wegen einer Blutrache-Fehde aus Albanien nach Deutschland geflüchtet ist, kritisiert die Politik des sicheren Herkunftslandes. Ebenso der Lehrer: Jeder Mensch habe eine individuelle Prüfung seines Fluchtgrundes verdient; die gegenwärtige Abschiebepraxis verstoße gegen die Menschenwürde. Es ist die große Stärke des Films, dass er die unterschiedlichen Stimmen relativ sachlich nebeneinander stellt und sich darauf beschränkt, den Ablauf zu protokolliert. Auch wenn die Haltung der Filmemacher klar ist, fällt der Film keineswegs tendenziös aus. Die unmenschliche Praxis, Familien mitten in der Nacht aus dem Bett zu reißen, wird schlicht so gezeigt; tatsächlich sind dies Bilder, die so wohl noch nie zu sehen waren und nachhaltig hängen bleiben.

Rau und Wendler besuchen die albanischen Protagonisten dann auch in deren alter neuer Heimat: Gezim und seine Frau, die ihren drei Kindern in Deutschland eine sichere Zukunft und eine Ausbildung bieten wollten. Gezim wünscht sich, dass seine Kinder eines Tages frei reisen können. Die Tochter wäre so gerne weiter in Deutschland zur Schule gegangen. Die andere Familie um die Geschwister Angjela und Elidor ist in Albanien nun auf der Flucht, von einem Versteck ins nächste; die beiden Brüder fürchten die Blutrache-Drohung einer anderen Familie, die sie in Deutschland sogar mit offiziellen Dokumenten belegen konnten. Damit beziehen die Filmemacher eine oft vernachlässigte Perspektive mit ein: Was passiert nach der Abschiebung? „Deportation Class“ ist eine fundierte, überzeugende, wichtige, so nüchterne wie aufwühlende Systemkritik.

Julia Teichmann, FILMDIENST 2017/11