Die Blumen von gestern (unser Film des Monats März)

  Freitag, 10. März 2017 - 20:30 bis - 22:45

Verleihung der Gilde Filmpreise 2017 – DIE BLUMEN VON GESTERN ist Bester Film national
Laudatio

 

Eintritt: 5,00 €


Deutschland/Österreich 2016
Kinostart: 12. Januar 2017
126 Minuten
FSK: ab 12; f
FBW: Prädikat besonders wertvoll 
 
Regie/Buch/Produktion: Chris Kraus ("Vier Minuten" und "Poll" liefen von Chris Kraus im achteinhalb)
Kamera: Sonja Rom
Musik: Annette Focks
Schnitt: Brigitta Tauchner

Darsteller:
Lars Eidinger (Totila Blumen), Adèle Haenel (Zazie Lindeau), Jan Josef Liefers (Balti Thomas), Hannah Herzsprung (Hannah Blumen), Sigrid Marquardt (Tara Rubinstein), Bibiana Zeller (Lisbeth Blumen),   (Professor Norkus), Eva Löbau (Anita Koldewey), Cornelius Schwalm (Bächle), Irene Rindje (Charlene Morgenrot), Hans-Jochen Wagner (Mauersperger), Gerdy Zint (Sieghart Blumen)

Fast zwanzig Jahre nach JENSEITS DER STILLE (Caroline Link, 1997), dem letzten Erfolg eines deutschen Films beim
TOKYO INTERNATIONAL FILM FESTIVAL
(ttif), ein A-Festival und zugleich das größte asiatische Filmfestival, wurden DIE BLUMEN VON GESTERN mit einem der weltweit höchstdotierten Festivalpreise ausgezeichnet. Zusätzlich gewann DIE BLUMEN VON GESTERN auch den Publikumspreis Wowow Viewer’s Choice Award. Somit fielen zum ersten Mal in der 31-jährigen Geschichte des Festivals Hauptpreis und Publikumspreis zusammen.

 

Filmhomepage, Wikipedia, EPD-FilmProgrammkino.de  

Ist die Filmkomödie um Holocaustforscher als Unterrichtsfilm an Schulen geeignet? Historiker haben in Berlin über „Die Blumen von gestern“ diskutiert. Eine Screwball-Komödie um Holocaustforscher, kann das funktionieren? Der Film „Die Blumen von gestern“ wird von der Kritik wahlweise als „ungeheuer komisch“ und „zutiefst berührend“ (Zeit online), als „nicht nur unangenehm, sondern peinlich“ (FAZ) oder als „hanebüchene“ Kostprobe des „neuen deutschen Geschichtskinos“ (Tagesspiegel) beschrieben. Am 12. Januar ist der umstrittene Film in den Kinos angelaufen, am Mittwochabend lief im Centre français in Berlin-Wedding eine Sondervorstellung der Landeszentrale für politische Bildung. Die Absicht der zur Schulverwaltung gehörenden Aufklärer: Regisseur Chris Kraus mit real existierenden Holocaustforschern zu konfrontieren – auch im Hinblick auf künftige Schulvorführungen.

Kritik von Andreas Busche im Tagesspiegel
Kritik
 von Andreas Platthaus in der FAZ 
Kritik
von Martin Schwickert auf Zeit.de
Kritik
von Matthias Dell auf Spiegel Online
Kritik
von Fritz Göttler in der Süddeutschen Zeitung
Kritik
von Hanns-Georg Rodek in der Welt
Kritik 
von Matthias Reichelt in der Jungen Welt

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst
Ein humorloser deutscher Holocaust-Forscher ereifert sich über das Ansinnen seines Instituts, einen Auschwitz-Kongress von Daimler-Benz sponsern zu lassen. Überdies ärgert ihn seine französische Praktikantin, die mit dem Institutsleiter ein Verhältnis hat. Als sich die beiden näher kommen, entdecken sie überraschende Gemeinsamkeiten in ihren Biografien. Tempo- und pointenreich inszenierte, herausragend gespielte Liebesgeschichte um einen Täter-Enkel und eine Opfer-Enkelin. Angelegt als treffsichere Screwball-Komödie über das politisch Unkorrekte vor dem Hintergrund des Holocaust, verliert der Film nach der Versöhnung des Paars schlagartig den roten Faden. Umso dringlicher stellt sich dadurch die Frage nach dem falschen Lachen oder einer unpassenden Holocaust-Verarbeitung.
Ab 14.
Ulrich Kriest, FILMDIENST 2017/1

Ein sehenswerter Beitrag des österreichischen Fernsehens, den wir für Sie auf Youtube abgestellt haben (7 Minuten):



Trailer (129 Sekunden):


 

ausführliche Kritik Filmdienst
AllesVorsicht, in diesem Film schwäbelt der Hauptsponsor. Am Anfang, so Filmemacher Chris Kraus, stand die Hoffnung auf Heilung der Wunden, die die Geschichte geschlagen hat, in Gestalt eines flüchtigen Moments der Liebe. Da aber in Wahrheit nicht „die Historie“ Wunden zufügt, sondern es die Menschen selbst sind, erzählt „Die Blumen von gestern“ eine Liebesgeschichte zwischen Täter- und Opfer-Enkeln. Und zwar als klassische Screwball-Komödie, wie sie in den 1930er- und 1940er-Jahren, als die Wunden so nachhaltig geschlagen wurden, besonders populär war.

Damit steht unversehens die Frage im Raum: Taugt der Holocaust zur Komödie? Kraus beantwortet das recht clever durch eine Umleitung. Es geht nämlich nicht um den Holocaust, sondern eher um das Fortschwären der Wunde im Privaten, wohin die offizielle Erinnerungs- und Gedenkkultur nicht reicht.

Fragen wir also zunächst: Wie geht’s eigentlich der Holocaust-Forschung? Die geht mit der Zeit und muss Drittmittel einwerben, um den nächsten Auschwitz-Kongress abhalten zu können. Ab sofort steht die Holocaust-Forschungsstelle in Ludwigsburg also für Firmen-Events zur Verfügung. Und der Hauptsponsor Daimler-Benz würde stark schwäbelnd sogar noch 5000 Euro drauflegen, wenn die Schirmherrin, eine Überlebende, sich bei ihrer Eröffnungsrede einen Mercedes-Stern ansteckte. Die Schirmherrin reagiert aufs Angebot überrascht: „Das hätte ich jetzt nicht gedacht, dass ein von Steuergeldern finanziertes Institut zur Erforschung des deutschen Völkermords bereit und fähig ist, an meinen jüdischen Geschäftssinn zu appellieren! Noch dazu mit solchen Summen!“ Allerdings sträubt sich die Überlebende. Sie will kein Opfergejammer, sondern lieber davon erzählen, was ihr im Leben gelungen ist: Liebesgeschichten, erfolgreich verlaufende Schönheitsoperationen. Totila Blumen, Holocaustforscher alter Schule und als solcher ohne jeden Humor, regiert empört und beschimpft die Überlebende: „Sie haben ja wirklich keine Ahnung, was den Juden angetan wurde!“

Totila, ein Täter-Enkel, hat sich und seine Biografie nach anfänglichem Zögern ganz und gar der Holocaust-Forschung verschrieben. Der erfolgreiche Wissenschaftler, von der eigenen (Täter-)Familie verstoßen, mit einer konfliktscheuen Ärztin verheiratet und Adoptivvater eines afrikanischen Kindes namens Sarah, ist zum hypermoralischen Misanthropen geworden: „Ich bin Holocaust-Forscher. Ich verdiene mein Geld damit, negativ zu sein.“ Auf Totila trifft zu, dass er seine Neurosen mit „allen Toten des Reiches“ verknüpft hat.

Gleiches gilt auch für Zazie, allerdings aus Opferperspektive; die französische Praktikantin mit der Deutschen-Phobie wird Totila zur Seite gestellt. Ihre beiden Biografien haben viel mehr gemeinsam, als man zunächst erahnt; die Spur führt, bei Chris Kraus wenig überraschend, ein weiteres Mal ins Baltikum, wo viele Fäden nicht nur der Familiengeschichte zusammenlaufen.

Eine tempo- und pointenreiche und für deutsche Verhältnisse auch erstaunlich treffsichere Screwball-Komödie vor dem Hintergrund des Holocaust ist ein riskantes Unterfangen, weil dem Publikum zugemutet und zugetraut wird, über das forciert politisch Unkorrekte, den Tabubruch, reflektiert lachen zu können, wenn darüber gestritten wird, in welchen Autos welcher Marken Menschen mobil vergast wurden und welche Autofirmen Zwangsarbeiter nur „fertig gemacht“ haben.

Dem Filmemacher ist es nach eigener Aussage um eine „Ode an die Gestörten und ihre Störungen“ zu tun, nicht um eine „Klage über die Verbrecher und ihre Verbrechen.“ Die muss man aber mitdenken, um im Dunkel des Kinosaals nicht das falsche Lachen zu lachen.

Das Unterfangen funktioniert nicht zuletzt dank der beiden herausragenden Hauptdarsteller mehr als 80 Minuten blendend. Es ist von höchstem Unterhaltungswert, wie Zazie Totilas Schuldpanzer knackt und ihm klarmacht, dass man auch als Holocaust-Forscher zur Unterhaltung nicht nur das „Tagebuch der Anne Frank“, sondern auch „deutsche Gedichte“ lesen darf. Adèle Haenel kombiniert die Körperlichkeit von „Liebe auf den ersten Schlag“ mit einem erstaunlichen Gespür für das Komische. Und auch Lars Eidinger spielt den aggressiven, selbstmitleidigen Neurotiker ohne den Hauch von Eitelkeit mit vollem Körpereinsatz.

Das trägt den Film über eine lange Strecke. Doch wenn die Versöhnung gewissermaßen vollzogen ist, verliert „Die Blumen von gestern“ schlagartig den roten Faden und seinen Punch. Vielleicht, weil die Inszenierung Angst bekam, doch nur noch eine Liebesgeschichte zu sein? Weil eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Holocaust-Verarbeitung letztlich keine Lösung, sondern nur eine clevere Konstruktion ist? Weil die Figuren für ein „Danach“ dann doch zu wenig Substanz haben, um das bloß Konstruierte zu verdecken? Oder weil dem Film wie dem Publikum ein Mehr an Perfektion nicht zumutbar gewesen wäre? Noch eine Umleitung: in ein anderes Genre und auf andere Schlachtfelder.

Ulrich Kriest, FILMDIENST 2017/1